Eine Woche nach Erdbeben: Ausmass der Zerstörung wird sichtbarer
Genau eine Woche nach den katastrophalen Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet mit Zehntausenden Toten wird das Ausmass immer deutlicher.
Genau eine Woche nach den katastrophalen Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet mit Zehntausenden Toten wird das Ausmass immer deutlicher.
Auch wenn am Wochenende noch Verschüttete lebend gefunden wurden, rechnen die Retter nun kaum noch mit Überlebenden. Am frühen Montagmorgen vor einer Woche hatte das erste Beben der Stärke 7,7 um 2.17 Uhr MEZ die Region erschüttert, Stunden später folgte ein zweites schweres Beben der Stärke 7,6. Die Zahl der bestätigten Toten liegt inzwischen bei mehr als 35.000.
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO beträgt die Opferzahl in Syrien mindestens 5900. Das Epizentrum lag im Nachbarland Türkei. Dort starben den Behörden zufolge mindestens 30.000 Menschen. Der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths rechnete am Sonntag sogar mit bis zu 50.000 Toten. Tausende werden noch vermisst.
Auch Teams von mehreren Hilfsorganisationen aus Deutschland sind seit Tagen in dem Erdbebengebiet im Einsatz. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan am Sonntag in einem Telefonat die Lieferung von weiteren Zelten, Decken und Heizvorrichtungen zu. Über das sogenannte EU-Katastrophenschutzverfahren wurden der Türkei nach Angaben vom Sonntag schon jetzt 38 Rettungsteams mit 1651 Helfern und 106 Suchhunden angeboten. Zudem hätten zwölf EU-Staaten bereits 50.000 winterfeste Familienzelte, 100.000 Decken und 50.000 Heizgeräte zur Verfügung gestellt. Hinzu kämen 500 Notunterkünfte, 8000 Betten und 2000 Zelte, die die Kommission mobilisiert habe.
In einem Wettlauf gegen die Zeit wurden auch sieben Tage nach der Katastrophe Überlebende gerettet. Nach 163 Stunden unter Trümmern befreiten die Rettungsteams in der Provinz Hatay am späten Sonntagabend unter anderem einen siebenjährigen Junge und eine 62-Jährige, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am frühen Montagmorgen berichtete. In der Provinz Kahramanmaras wurde ein 45-jähriger Mann gerettet, der 162 Stunden verschüttet gewesen war. Während der Rettungsarbeiten erzählte Polat den Rettungskräften, dass er auf den Ofen neben sich geschlagen habe, um auf sich aufmerksam zu machen. 158 Stunden musste ein zehnjähriger Junge in der Stadt Adimayan auf Rettung warten. Sein erster Wunsch, Fruchtgummis zu bekommen, habe die Herzen der Retter berührt.
Der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde, Ali Ertan Toprak, warnte indes vor eskalierender Gewalt. «Es macht mir zunehmend Sorgen, dass die Menschen aufeinander losgehen», sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND/Montag). «Viele Ortschaften haben bis heute keine Hilfe erhalten. Deshalb ist die Wut so gross.»
Die Menschen fragen sich auch, weshalb so viele Gebäude einstürzen konnten. Erste Haftbefehle wurden erlassen. Die Beschuldigten sollen für Baumängel verantwortlich sein, die den Einsturz der Gebäude begünstigt hätten, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf Strafverfolger. Experten kritisieren, dass Bauvorschriften für mehr Schutz vor Beben nicht umgesetzt werden.
«Die Türkei hat auf dem Papier eine der besten Baunormen der Welt. Wenn es um die Umsetzung geht, sind wir die Schlechtesten», sagte Städtebauexperte Orhan Sarialtun von der Ingenieur- und Architektenkammer der Deutschen Presse-Agentur. Die meisten beschädigten Gebäude in den betroffenen Provinzen wiesen dieselben Mängel auf: an Stahl- und Eisenstangen, Beton minderer Qualität sei verwendet worden und bei Bodenuntersuchungen habe es Fehlberechnungen gegeben, sagte Sarialtun. Die Opposition macht die Regierung für den Pfusch am Bau verantwortlich. In der Türkei ist Wahlkampf.
Der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu warf Präsident Erdogan, der seit 20 Jahren an der Macht ist, am Sonntag einmal mehr vor, das Land nicht auf solch ein Beben vorbereitet zu haben. Er kritisierte zudem, dass die Regierung im Jahr 2018 eine Bau-Amnestie erlassen habe, mit der illegal errichtete Gebäude gegen Strafzahlung im Nachhinein legalisiert worden seien. «Sie haben die Häuser, in denen die Menschen leben, zum Friedhof gemacht und dafür noch Geld genommen», sagte der Oppositionsführer.
Die Bundesregierung kündigte an, die Visa-Vergabe über ein unbürokratisches Verfahren zu vereinfachen, damit Betroffene zeitweilig bei Angehörigen in Deutschland unterkommen können. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Baden-Württemberg, Gökay Sofuoglu, rief die Behörden im RND dazu auf, bei der Visa-Vergabe tatsächlich schnelle Entscheidungen zu treffen. «Es wird für alle ein Aufwand sein, aber in dieser schwierigen Lage sollten die Behörden sowohl in Deutschland, aber auch in der Türkei alles daran setzen, dass diese Menschen reisen können.»