Laura Leupi sucht nach einer Sprache über eine Vergewaltigung
In der Kritikerrunde am Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis hat die einzige Schweizerin im Wettbewerb, Laura Leupi, im österreichischen Klagenfurt mehrheitlich Lob geerntet. Sie war mit einem Text mit dem Titel «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt» angetreten.
In ihrem Video, mit dem sich Laura Leupi vorstellte, verwies sie unter anderem auf die Zwiespältigkeit von Sprache, die gleichzeitig fixieren und befreien könne. Genau mit dieser Ambivalenz arbeite sie in ihrem Text «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt».
Gerüst oder «Geländer» des Textes waren alphabetisch geordnete Stichworte wie «A steht für Angst», über «I steht für intersektional» bis «Z», das für Zuhause als Ort, wo die meisten sexuellen Übergriffe stattfinden, stand, aber auch für Zuflucht oder Zukunft.
Zwischen den einzelnen Buchstaben stand ein Text, der die Geschichte einer Vergewaltigung enthüllte – wobei «Geschichte» zu kurz greift. Denn der Text in Ich-Form bediente sich unterschiedlicher Elemente oder Genres: szenische Momente, Essay oder Statistik.
Sprache für das Unaussprechliche
Jurorin Mithu Sanyal etwa fand am Samstag den Text «mutig», weil er ausspreche: «Ich bin vergewaltigt worden». Der Text sei der Versuch, eine Sprache für das Unaussprechliche zu finden. Die Jury-Vorsitzende Insa Wilke und Jurorin Brigitte Schwens-Harrant verwiesen darauf, dass das erzählende Ich permanent ein «du» anspricht, und damit das Publikum dazu bringe, sich ins Verhältnis zum Gesagten zu setzen.
Lobend bemerkte Juror Klaus Kastberger, dass der Text völlig unterschiedlich sei, je nachdem, ob man ihn still lese oder im Vortrag von Laura Leupi erlebe: Der Text werde «kohärent im Augenblick der Performance». Die 1996 geborene Leupi arbeitet denn auch nicht nur im Kulturjournalismus, sondern sie hat sich vor allem als Autorin von Theater- und Performance-Texten einen Namen gemacht.
Unterschiedlicher Auffassung zeigte sich die Jury zur Struktur des Textes als Liste, zu seiner Gliederung nach dem Alphabet. Der Literaturwissenschaftler Thomas Strässle, auf dessen Einladung hin Leupi in Klagenfurt auftritt, wertete diese Form positiv, als «Versuch, ein dringliches Thema zu strukturieren». Mara Delius und Sanyal verwiesen auf ihre anfängliche Skepsis gegenüber dem Alphabet als Mittel für eine Struktur, die altbekannt sei.
Äusserst kritisch zeigte sich Philipp Tingler. Der Text «betreibt das, was er kritisiert». Er benutze Sprache «totalitär» und «geschlossen», in unfreiwilliger Ironie offenbare er die « Haltung einer Tendenz», er stelle eine Gemeinschaft über das Individuum.
Alphabet der falschen Worte
Diesem kritischen Diktum wollte sich die Mehrheit der Jury jedoch nicht anschliessen. Vielmehr führe der Text vor, dass gerade dieses Alphabet der falschen Worte, gerade diese Liste «die Willkür» sei, hiess es. Dieses Gestaltungselement und der Text dazwischen öffneten weitere Räume des Sprechens über ein politisches Anliegen.
Die 1996 geborene Laura Leupi, übrigens die jüngste Teilnehmerin des diesjährigen Wettlesens, hat ihren Text am Samstag als Vorletzte präsentiert. Mit ihrem Thema der Vergewaltigung reihte sie sich in die Mehrheit der Texte, die sich mit häuslicher und sexualisierter Gewalt auseinandersetzten. Nach den Jury-Diskussionen der vergangenen Tage werden dem aus der Ukraine stammenden Autor Yevgeniy Breyger, der Österreicherin Anna Felnhofer und der Deutschen Valeria Gordeev gute Preischancen eingeräumt.
Am morgigen Sonntag wird sich erweisen, welcher Autorin, welchem Autor die Jury die meisten Punkte vergibt – wer also den Bachmann-Preis 2023 erhält. Der Hauptpreis ist mit mit 25’000 Euro dotiert und erinnert an die österreichische Autorin Ingeborg Bachmann (1926-1973). Ausserdem vergeben werden der Deutschlandfunk-Preis (12’500 Euro), der Kelag-Preis (10’000 Euro), der 3sat-Preis (7500 Euro) sowie der BKS Bank-Publikumspreis (7000 Euro plus Stadtschreiberstipendium).