«Es ist Zeit, offen über sexuelle Übergriffe zu reden»
Das traurige Schicksal von Monika Rutschmann Bodmer liegt über 30 Jahre zurück. Damals gab es noch keine Stelle, die sich für Missbrauchsopfer einsetzte. «Das, was mit mir geschehen ist, war ein riesiges Tabu. Obwohl viele wussten, was mein Grossvater mir von meinem neunten bis 14. Lebensjahr angetan hat, wurde nicht darüber gesprochen », sagt das heute 47-jährige Opfer von sexuellem Missbrauch. Mit der Offenheit, wie sie heute über ihre Vergangenheit erzählt, will sie das Tabu brechen. «Es kann soviel Leid verhindert werden, wenn schon Kinder lernen, offen über sexuelle Übergriffe zu reden», sagt die zweifache Mutter.
Opferberatung seit 1999
Die Opferberatungsstelle in Goldau gibt es erst seit 1999. Die heutige Stellenleiterin, Fabienne Lochmatter, findet es wichtig, dass auch in Medien immer wieder über dieses Thema geschrieben wird. «Im letzten Jahr wurde die Beratungsstelle noch mehr in Anspruch genommen als zuvor», so Lochmatter. «Ein Grund könnte sein, dass heute offener über Missbrauch gesprochen wird.» 2022 sind 544 neue Fälle eingegangen (457 Schwyzer- und 87 Urner-Fälle). Rechnet man die noch offenen Fälle des Vorjahrs hinzu, wurden insgesamt 693 Fälle bearbeitet (597 Schwyzer- und 96 Urner-Fälle). «Bei 121 der bearbeiteten Fälle (17,5 Prozent) handelte es sich um sexuelle Gewalt, davon waren 30 Minderjährige betroffen», präzisiert Lochmatter. Der grosse Teil der von der Fachstelle beratenen Personen ist von Häuslicher Gewalt betroffen (42 Prozent im Kanton Schwyz). Das Jahr 2022 gilt bei der Opferberatungsstelle bisher als Rekordjahr. Betrachtet man die Fallzahlen der vergangenen Jahre, ist ein stetiger Anstieg erkennbar.
Lochmatter weist darauf hin, dass Opferberatung und Opferhilfe nicht dieselben Institutionen sind. Die Opferberatungsstelle ist eine unabhängige Fachstelle und arbeitet direkt mit den Betroffenen zusammen. Die Opferhilfe ist an den Kanton angegliedert.
Das letzte Jahr gilt bei der Beratungsstelle Opferhilfe Kanton Schwyz und Uri als Rekordjahr.
Ein Grund könnte sein, dass heute offener über Missbrauch gesprochen wird, so die Stellenleiterin Fabienne Lochmatter.
Monikas Mutter war gerade mal 15 Jahre alt, als sie schwanger wurde. Die Geburt des kleinen Mädchens war sozusagen ein Druckmittel, damit das junge Liebespaar trotz Einwänden der Eltern väterlicherseits heiraten konnte. Für die damaligen Wirtsleute des Restaurants Adler in Freienbach war die junge Frau, welche aus einer ärmlichen Freienbacher Familie stammte, nicht gut genug für ihren Sohn.
Die Ehe stand auch sonst unter keinem guten Stern. Die jungen Eltern stritten sich oft, zogen von einem Ort zum anderen. «Als Kind habe ich nicht viel Liebe erhalten», erzählt die 47-jährige Monika Rutschmann-Bodmer, die heute im Zürcher Oberland lebt. Als Monika neun Jahre alt war, starb ihre Mutter auf tragische Weise. Über dieses schreckliche Ereignis möchte sie aus Personenschutzgründen nicht sprechen.
«Er sagt mir immer wieder, dass ich schlecht sei» Monika und ihr jüngerer Bruder kamen zu den Grosseltern nach Freienbach, da ihr Vater nicht für die Kinder sorgen konnte. Zu den Grosseltern aus dem «Adler» hatten sie bis zu diesem Zeitpunkt wenig Kontakt, für diese war alleine Monikas Mutter für die gescheiterte Ehe verantwortlich.
Der Grossvater liess seine Enkelin von Anfang an spüren, dass sie genau so schlecht und wertlos sei wie ihre Mutter. Er fand es mehr als recht, die 9-Jährige nebst psychischem Druck auch sexuell zu missbrauchen. «Er behandelte mich wie ein Stück Dreck und gab mir zu verstehen, dass ich kein Recht habe, mich gegen ihn, den respektierten und angesehenen Mann, zu wehren. Ich wusste aber von Anfang an, dass das, was er fast jeden Abend mit mir im Bett machte, Unrecht war.» Zwar habe er mit seiner Enkelin nie den Geschlechtsakt vollzogen, «er sagte, er sei doch nicht so blöd und zerstöre mein Jungfernhäutchen. Ich wusste nicht mal, was das ist.» Monika zog sich immer mehr in ihre eigene Welt zurück und fand Trost bei den Hunden des Grossvaters. Damit konnte er das Mädchen auch erpressen. «Er drohte mir, dass er mir die Hunde wegnehme, wenn ich mit jemandem darüber spreche.» Alle haben weggeschaut
Anzeichen des Missbrauchs hat es viele gegeben, alle haben weggeschaut. Auch die Grossmutter. Bis die damals 14-jährige Schülerin eines Tages von ihrer Handorgellehrerin angesprochen wurde. «Da ist alles aus mir herausgekommen, ich konnte zum ersten Mal mit jemanden darüber reden», erinnert sie sich. «Mein Grossvater hat mich nach dem Musikunterricht abgeholt. Er hat sofort gespürt, dass etwas passiert ist, wohl weil er schon seit einiger Zeit befürchtete, dass ich nicht länger schweigen werde. Er warnte mich und gab mir zu verstehen, dass ich ohne Beweise keine Chance gegen ihn habe. Dir glaubt sowieso niemand», so seine Überzeugung.
Eine Sozialarbeiterin setzte sich für Monika ein, «für mich dauerte es aber eine Ewigkeit, bis es endlich zur Gerichtsverhandlung kam», erinnert sich Rutschmann-Bodmer an diese Zeit. Von Grossvaters Seite wurde sie in die-sen Monaten massiv eingeschüchtert. «Da habe ich einen grossen Fehler gemacht: Meine Kollegin hat mir den Rücken zerkratzt und mich geschlagen, damit ich Blaumosen hatte. So bin ich dann zum Arzt gegangen.» Natürlich ist die Sache aufgeflogen, die ganze Inszenierung wurde ihr vor Gericht auch angelastet. «Das war natürlich dumm, ich war einfach sehr verzweifelt.» Der Grossvater wurde mangels Beweisen freigesprochen.
Nach dem Prozess wurde sie in Pflegefamilien untergebracht. Das ging jedoch nirgends lange gut, was zum Teil auch an ihrem schwierigen Verhalten lag. «Ich hatte eine riesen Wut und fühlte mich von der ganzen Welt verraten.» Zu dieser Zeit hatte sie auch Selbstmordgedanken, aber immer kurz vor der Tat ist ihr Kämpfergeist erwacht.
Kurze Zeit, bevor ihre Grossmutter starb, kam es nochmals zu einer Begegnung mit ihr. «Sie sass am See auf einem Bänkli und hat mich gebeten, zu ihr zu sitzen. Ich wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben, spürte aber, dass es für sie wichtig ist.» Die alte Frau hat sich bei ihrer Enkelin entschuldigt. Dafür, dass sie sie nicht geschützt hat, obwohl sie schon lange von den nächtlichen Übergriffen ihres Mannes wusste. Und dafür, dass sie vor Gericht nicht aussagte. «Sie hatte Angst vor dem eigenen Mann und konnte sich nie gegen ihn wehren. Aber verzeihen kann ich ihr trotzdem nicht.» Verein Abri setzt sich für missbrauchte Kinder ein Ihre Schulzeit in Freienbach hat sie nur noch vage in Erinnerung. «Ich lebte in meiner eigenen Welt und habe Dinge erfunden, die nicht stimmten. Manchmal war ich aggressiv, manchmal einfach abwesend. Über diesen Lebensabschnitt fehlt mir völlig das Zeitempfinden.» Nach der Schulzeit liess sie sich als Tierpflegerin ausbilden. Tiere waren der Halt in ihrem Leben, Menschen konnte sie nur noch schwer vertrauen. Bei ihrer späteren Ausbildung als Hundetrainerin machte sich ihr grosses Verständnis für Hunde bemerkbar. Das Zusammenspiel zwischen Mensch und Hund empfindet sie als magisch, «wenn man das einmal erlebt hat, möchte man es immer weiter vertiefen und auch weitergeben», beschreibt sie ihre Verbindung. «Endlich habe ich etwas gefunden, das ich gut kann, das hat mein Selbstwertgefühl gestärkt.» Es kamen Weiterbildungen dazu, sie gründete erfolgreich eine eigene Hundeschule, die Hundetherapie und -schule Bodmer in Aathal-Seegräben, die sie nun seit über 25 Jahren aufgebaut hat.
«Tiere haben mein Leben gerettet, nun möchte ich mit dem Verein Abri einen Ort schaffen, wo ich Lichtblicke zurückgeben kann», sagt Bodmer. Der Verein Abri setzt sich für kranke und missbrauchte Kinder ein. «Mit Therapiehunden, Pferden, Fred der Schildkröte, den Hasen und Meerschweinchen bieten wir für jedes Kind, jeden Anlass und jede Situation tierische Unterstützung», so die Gründerin. Für diesen Ort sucht sie noch die passende Lokalität im Raum Zürcher Oberland und ist angewiesen auf finanzielle Unterstützung. «Wir freuen uns über jede Hilfe.» (Weitere Infos zum Verein: www. verein-abri.ch.)
Die Mitglieder des Vereins Abri besuchen mehrmals jährlich mit ihren Tieren verschiedene Institutionen wie die Kinderpsychiatrie Männedorf oder das Lighthouse in Zürich. «Es ist für mich ein grosses Geschenk, auf diese Weise Lichtblicke weitergeben zu dürfen. »
Zum ersten Mal Liebe erfahren
Monika Rutschmann-Bodmer hatte schon lange den Wunsch nach einer eigenen Familie. «Ich hatte Angst vor der Verantwortung und davor, zu scheitern.» Der Kinderwunsch war für sie auch ein wichtiger Grund, immer wieder an sich zu arbeiten.
«Nach der Geburt meiner Tochter spürte ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl von bedingungsloser Liebe. Für mich ein riesiges Geschenk. Da wusste ich, dass ich es schaffen werde und eine gute Mutter sein kann.» Ihre beiden Mädchen sind inzwischen 12 und 14 Jahre alt, «ich bin unglaublich stolz auf sie, durch meine Geschichte haben sie schon früh gelernt, auch für andere da zu sein.» Natürlich wurde sie öfters von Eltern oder Lehrpersonen kritisiert, weil sie so offen vor den Kindern über ihre Geschichte redet. «Mir ist das aber wichtig, damit sie verstehen, warum ihr Mami manchmal traurig ist und sich zurückzieht. Denn sexueller Missbrauch soll nicht länger ein Tabu sein.» Kürzlich hat-te ihre Tochter darüber in der Schule einen Vortrag gehalten. «Es kann soviel Leid verhindert werden, wenn Kinder lernen, darüber zu reden», ist die zweifache Mutter überzeugt.
Monika Rutschmann-Bodmer wurde jahrelang von ihrem Grossvater sexuell missbraucht. Heute setzt sie sich mit ihrem Verein Abri für kranke und missbrauchte Kinder ein.