Stierhatz in Spanien: Archaische Tradition mit Todes-Kick
Mit verstauchtem Finger und einer Beule am Knie ist Patxi Ibáñez noch einmal glimpflich davongekommen. Bei der ersten Stierhatz des diesjährigen «Sanfermines»-Fests im nordspanischen Pamplona ist der 50-Jährige zu Boden gegangen. Er hat ebenso wie weitere fünf Verletzte Glück gehabt: Keiner der bis zu 600 Kilogramm schweren Bullen ist auf ihn getreten oder hat ihn gar mit seinen spitzen langen Hörnern aufgespiesst. Auch die zweite Hatz am Samstag verlief relativ glimpflich, mehrere Läufer kamen mit Prellungen, einer mit einem Ratscher am Arm - vermutlich durch ein Horn -, ins Krankenhaus, wie der staatliche TV-Sender RTVE berichtete. Der Tod aber läuft immer mit, wenn Tausende meist junge Männer sechs Kampfstiere zur örtlichen Stierkampfarena treiben. Seit 1924 gab es 16 Todesopfer, das letzte 2009. Jedes Jahr werden Dutzende Läufer zum Teil schwer verletzt.
Aber für die Teilnehmer, die bei der wilden Jagd durch die Gassen versuchen, die Stiere an den Hörnern zu berühren oder ihnen einen Klaps auf den muskulösen Körper zu geben, ist es eine einzige grosse Mutprobe. Tatsächlich muss man wohl sogar etwas übermütig sein, um vor, zwischen und neben angriffslustigen Bullen auf Tuchfühlung durch enge Strassen zu rennen.
Angefeuert werden die vorwiegend typisch ganz in Weiss gekleideten Läufer mit ihren roten Halstüchern dabei von Zehntausenden Zuschauern, die oft schon von Rotwein und Sangría beschwipst sind. Sozusagen ein kollektiver Adrenalinrausch, ein Ausbruch aus dem Alltag mit Vollkasko-Mentalität und dem traditionellen Männerbild im Umbruch.
Das staatliche Fernsehen RTVE und andere Sender übertrugen die erste Stierhatz schon am Freitagmorgen live. Es gibt zudem Sondersendungen, die zum Teil mehrere Stunden dauern. Die Details jedes Laufs, von denen es bis nächsten Freitag insgesamt acht gibt, werden ausführlich diskutiert, fast so wie bei Fussballspielen. Welcher Stier an welcher Häuserecke besonders gefährlich war, welcher Läufer wo in Bedrängnis geraten ist, sich geschickt im letzten Augenblick in Sicherheit gebracht hat – oder eben auch von einem Stier überrannt wurde.
Bei jeder Hatz werden je sechs Stiere eines Zuchtbetriebes geführt von zahmen Ochsen zur Stierkampfarena getrieben, wo sie am Abend dann den letzten grossen Auftritt ihres kurzen Lebens haben. Jeder Stier hat einen Namen, sein Kampfgewicht wird hervorgehoben, sein Mut und seine Angriffslust gewürdigt und der Zuchtbetrieb, aus dem er stammt, lobend erwähnt. Sogar die Qualität der Leitochsen wird lang und breit diskutiert. Sind sie zu langsam, kommt es bei der Hatz zu gefährlichen Staus in den engen Strassen, sind sie zu schnell, ist das Spektakel zu kurz und langweilig. Oder ein Stier verliert den Anschluss und greift die Menschen um sich herum an. Länger als drei Minuten dauert selten einer der Läufe.
Das Fest zu Ehren des Stadtheiligen San Fermín wird bereits seit 1591 begangen. Darüber schrieb schon etwa der US-Schriftsteller Ernest Hemingway in seinem Roman «Fiesta» (1926), was bis heute auch viele Touristen aus Nordamerika anlockt. Drei der Leichtverletzten des ersten Laufs waren einem Bericht der Nachrichtenagentur Europa Press zufolge US-Bürger. 2020 und 2021 waren die Feierlichkeiten wegen der Corona-Pandemie abgesagt worden, aber seit dem vergangenen Jahr ist alles wieder so wie immer. Dieses Jahr sind auch erstmals nach Corona wieder viele Touristen aus Asien angereist, berichtet Reiseveranstalter Mikel Ollo dem Onlinemedium «OKdiario». Für die Stadt bedeutet das Fest Einnahmen von schätzungsweise bis zu 100 Millionen Euro.
Aber nicht alle teilen die Begeisterung. Tierschützer protestierten seit Jahren gegen die Stierhatz, jedoch vergeblich. Sie kritisieren, dass die Hatz für die Stiere eine einzige panische Flucht durch für sie völlig ungewohnte Menschenmassen sei, die sie einem enormen Stress aussetze. Und alle 48 Stiere würden dann abends beim Stierkampf erst gequält und dann getötet. Immer am letzten Tag vor dem Fest demonstrieren Aktivisten gegen die Hatz. Dieses Jahr hüllten sie sich von Kopf bis Fuss in blutrote Gewänder und hielten Schilder mit der Aufschrift «Pamplona: Gewalt und Tod für Bullen» in mehreren Sprachen hoch.
Doch die Empörung tut dem Spektakel und der Begeisterung der Läufer und Besucher keinen sichtbaren Abbruch. Viele Läufer sind schon seit langem dabei. So auch der beim ersten Lauf gestürzte Patxi Ibáñez. «Seit vielen Jahren mache ich mit, und das heute war nur ein kleiner Schrecken», zitierte ihn die Zeitung «Noticias de Navarra». Abschrecken lassen will er sich auf keinen Fall. «Ich bin gestürzt, aber am Samstag laufe ich wieder mit», sagte er beim Verlassen des Krankenhauses.