Verschiedene Facetten von Männlichkeit seit Generationen ein Thema
In den emotional aufgeladenen Debatten über Gender stehen queere Identitäten und feministische Anliegen im Zentrum. Männlichkeit wird meist ausgeklammert. In diese Lücke springt nun ein vielstimmiges Debattenbuch.
«Oh Boy. Männlichkeit*en heute», heisst eine Sammlung, mit 18 (auto)fiktionalen Texten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Zusammengestellt haben das Buch der deutsche Autor Valentin Moritz und Donat Blum aus der Schweiz. Queer, postmigrantisch und durchaus unterschiedlich nähern sich die 18 Schreibenden Männlichkeiten. Dabei geht es auffällig oft um Beziehungen von Männern zu Männern, sei es Vater und Sohn, Freundschaften, Männerliebe oder Sex.
Dringlich seit Generationen
Neu ist das nicht, auch nicht radikal oder lediglich ein Trend – seit Generationen arbeiten sich Schreibende an Narrativen von Männlichkeit und damit einhergehenden gesellschaftlichen Konventionen ab. So gilt der Schweizer Autor Christoph Geiser als ein Pionier der schweizerischen queeren Literatur; er beschäftigt sich seit den frühen 1980er Jahren mit homosexuellen Neigungen. Ins Zentrum seines Romans «Wüstenfahrt» (1984) stellte er eine gescheiterte Liebe zwischen zwei Männern. Dass der Berliner Secession Verlag das Gesamtwerk Geisers aktuell neu auflegt, zeigt, dass die damals radikale Infragestellen des bürgerlichen Ichs weiterhin Relevanz und Dringlichkeit hat.
Zur Generation derer, die damals erst geboren wurden und die sich heute mit dem Thema auseinandersetzen, gehört Donat Blum. 1986 in Schaffhausen geboren, lebt Blum heute in Zürich und Berlin. In «Oh Boy» skizziert Blum die eigene Jugend: Cevi-Gruppe, Turnunterricht und die kleinen Könige der Schulzeit. Heteronormativität pur. Homosexualität wird tabuisiert oder negativ konnotiert. Das ist ein weiterer roter Faden, der sich durch diverse Beiträge der Textsammlung zieht.
Harte Schale, weicher Kern
«Wie einfach wäre es gewesen, diese Verletzlichkeit in der Natur des Menschen als normal zu betrachten, sie nicht mit neuen Siegeszügen, Mutproben zu kaschieren», fragt Dinçer Güçyeter in seinem Text. Der 1979 geborene deutsche Autor von «Unser Deutschlandmärchen» (2022, letzten Frühling mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet), schreibt ebenfalls aus der Ich-Perspektive an ein Du, den Bro Ahmet. Er beschreibt eine Männerfreundschaft; poetisch, und nicht zuletzt wegen der gewählten Form sehr direkt. Es geht um Ängste, um Macht, um Einsamkeit, Fragilität und fehlende Empathie.
Jayrôme C. Robinet, der jüngst das Wettlesen um den Ingeborg Bachmannpreis in Klagenfurt eröffnet hat, verweist auf klare Geschlechterrollen. Männer sind die starken Beschützer, Frauen und Kinder schwach und verletzlich. Um zu zeigen, dass die Realität komplexer ist als angenommen, bezieht Robinet die Statistik ein. Das Fazit: Sexismus betrifft nicht nur Frauen und toxische Männlichkeit nicht nur Männer.
Derartige Binarität hebt Sascha Rijkeboer komplett auf. Hier geht es um erste sexuelle Erfahrungen während der Transition. Dafür muss sich Rijkeboer in ein schwules Umfeld begeben, denn heterosexuelle Männer lesen Sascha jetzt als Mann. Bestätigung und Enttäuschung verschwimmen. Und gerade in dieser verletzlichen Findungsphase und ständigen Selbstbefragung sind Gendernormen und Klischees plötzlich allgegenwärtig. Absurd bis brutal.*
* Dieser Text von Philine Erni, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.