Aus dem Bett zu WM-Gold
Die beiden Staffeln sorgen am letzten Wettkampftag an der OL-WM für weitere Medaillen. Die Schweiz schreibt in Flims/Laax verschiedene Geschichten – und macht Werbung für den Sport.
Beim ersten Klopfen an der Zimmertür reagierte Joey Hadorn nicht. Wer will denn schon was um diese Uhrzeit? Beim zweiten Klopfen öffnete er die Tür doch. Er solle schnell zum Frühstück, hiess es. Einige Stunden später war Hadorn Weltmeister mit der Staffel. Seine zweite Medaille an dieser OL-WM in Flims/Laax nach Silber über die Mitteldistanz am Tag zuvor. «Das klingt schon ziemlich gut», sagt der Berner Oberländer im Ziel.
Falsche Hosen in der Tasche
Aus dem Bett zu WM-Gold. Es ist ein schon fast kitschiges Drehbuch. Aber es steht für die beeindruckende Qualität, die das Schweizer Team an diesen Titelkämpfen in der Heimat bewiesen: Im richtigen Moment bereit zu sein. Auch wenn man diesen Moment eigentlich gar nicht auf dem Plan hatte.
Eigentlich wären Daniel Hubmann, sein Bruder Martin Hubmann und Matthias Kyburz als Trio für den Staffelwettkampf vorgesehen gewesen. Weil sich Martin Hubmann im Rennen über die Mitteldistanz vom Samstag am Auge verletzt hatte und die Entzündung über Nacht nicht abnahm, waren die Schweizer am Sonntagmorgen plötzlich zu Änderungen gezwungen. «Es ging einiges drunter und drüber», so Hadorn. So, dass beim Packen der Tasche ein paar zu lange Hosen mit an den Start kamen. Doch der 26-Jährige liess sich auch davon nicht aus der Ruhe bringen. Von Hubmann auf der fünften Position ins Rennen geschickt, sorgte er mit seiner Routenwahl kurz vor der dritten Zwischenzeit für die vorentscheidende Zäsur.
«Hätte nicht damit gerechnet»
Und weil auch das Frauentrio wenige Stunden später, im letzten Wettkampf dieser WM, als Zweite hinter Schweden aufs Podest lief, hält die Schweizer Bilanz an die-sen Titelkämpfen bei sieben Medaillen, davon drei goldene. Das Heimteam ist damit die erfolgreichste Nation an dieser WM. Matthias Kyburz mit seinen beiden Goldmedaillen mit der Staffel und über die Mitteldistanz sowie Silber über die Langdistanz ist der herausragende Athlet der Titelkämpfe. Der Cheftrainer Kilian Imhof sagt: «Mit sieben Medaillen hätte ich nicht gerechnet. Gerade die drei Podestplätze über die Mitteldistanz haben wir nicht unbedingt budgetiert.» Mindestens vier Medaillen hat-te Imhof vor den Titelkämpfen als Ziel herausgegeben. Dass es am Ende beinahe doppelt so viele wurden, hat mitunter mit der Akribie zu tun, mit welcher sich das Team auf die WM vorbereitet hat-te. Um sich an die ungewohnte Höhenlage in Flims/Laax zu gewöhnen, absolvierten die Schweizer im Frühling ein dreiwöchiges Höhentraining. Imhof sagt, man habe ausserdem «in jedem Bergsturzgebiet im Land» trainiert, um sich an das herausfordernde, unstrukturierte WM-Gelände, das vor x-tau-send Jahren durch einen Bergsturz geformt wurde, zu gewöhnen. Seit der WM-Vergabe vor vier Jahren befand sich das Schweizer Team auf einer Mission. Plan und Realität divergieren oft – gerade in einer unberechenbaren Sportart wie Orientierungslauf, in der jeder Fehler gravierende Konsequenzen haben kann. Wie die Schweizer ihre Leistung auf den Punkt brach-ten, beeindruckt. Hier half die Erfahrung im Schweizer Team, die Stützen Matthias Kyburz (33) und Daniel Hubmann (40) sind Routiniers – und kamen mit dem Druck, der eine Heim-WM mit sich brin-gen kann, bestens zurecht. Imhof sagt: «Die Selektion hat sich ausbezahlt. »
Bleibende Geschichten
Die überzeugenden Auftritte des Schweizer Teams spielten auch den Organisatoren in die Karte. Brigitte Grüniger Huber, die OK-Präsidentin, sagt: «Etwas Besseres hätte uns kaum passieren können.» Nach dem verhaltenen Start am Donnerstag, als – auch wegen des Wetters – 1200 Zuschauerinnen und Zuschauer in den Zielbereich in Flims kamen, sorgten am Sonntag rund 5000 Fans für eine begeisternde Stimmung. Total dürften an den drei Wettkampftagen rund 10000 Zuschauende den Weg nach Graubünden gefunden haben. Die Schweizer Fähnchen waren am letzten Tag derart begehrt, dass die verteilenden Volunteers irgendwann mit leeren Händen dastanden.
Überhaupt gelang es dem Schweizer Team, den Funken der Begeisterung zu entfachen. Dass die Resultate ihren Teil dazu beitrugen, ist logisch. Es bleiben aber auch andere Geschichten hängen. Jene von Hadorn, dem Mann, der aus dem Bett zu WM-Gold lief. Jene von Daniel Hubmann, der Mann, der im OL schon alles gewann – ausser eine Medaille an einer Heim-WM, bis am Sonntag. Oder jene von Natalia Gemperle. Die 32-Jährige stand für ihr Heimatland Russland bereits zwölf Mal auf dem WM-Podest. Nun gelang ihr dies erstmals für die Schweiz. Gemperle ist seit 2016 mit einem Aargauer verheiratet und seit Januar 2022 im Besitz des Schweizer Passes. Es sind auch solche Geschichten, die in den Köpfen hängen bleiben. Das Schweizer Team machte auf und neben der Strecke beste Werbung für den Sport.