Das Erfolgspuzzle passt immer besser
Catherine Debrunner ist wieder einmal in Paris. Wie im Mai, als sie als ers-te Schweizer Frau einen Laureus Award in Empfang nehmen kann. Damals steht sie mit Weltstars wie Lionel Messi oder der jamaikanischen Sprinterin Shelly-Ann Fraser-Pryce auf der Bühne und nimmt ihre Auszeichnung als «Sportsperson of the Year with a Disability» entgegen. Diesmal sitzt in der Lobby des «Pullman»-Hotels im Süden von Paris und sagt: «Ich kann noch gar nicht wirklich realisieren, was in den letzten Monaten alles passiert ist. Es scheint schon krass, aber ich freue mich mega.» Debrunner verlässt die französische Hauptstadt als fünffache Medaillengewinnerin. Viermal Gold und einmal Silber. Keine Athletin ist an der Leichtathletik-WM erfolgreicher als die 28-jährige Thurgauerin. Auf dem Podest der fleissigsten Medaillensammler sind mit Manuela Schär und Marcel Hug zwei Teamkollegen. Doch nicht primär ihre Erfolge an der WM lassen Debrunner Mühe bekunden, das Geschehene überhaupt einzuordnen, sondern was drumherum noch alles passierte. Die fünf Medaillen sind nur fünf weitere Steine in ihrem Erfolgspuzzle, das sie in den letzten Jahren kontinuierlich zusammensetzte und zur schnellsten Frau der Welt auf der Bahn werden liess.
Lehrerin auf Stand-by
Es ist noch gar nicht lange her, da hat die Ostschweizerin eine zweite Leidenschaft neben der Leichtathletik. Bis im Februar 2022 unterrichtet sie an einer Primarschule im aargauischen Waltenschwil als Klassenlehrerin. Dieser Beruf bereitet ihr grosse Freude. Und doch stellt sie damals fest, dass diese Tätigkeit zu sehr an ihrem Energiehaushalt zehrt. Dass die Erholung auf der Strecke bleibt. Deshalb entschliesst sie sich, die Karriere im Klassenzimmer auf einen Zeitpunkt nach ihrer Karriere zu verschieben und ist seither Vollprofi.
Denn spätestens im September 2021 hat Debrunner gesehen und gespürt, dass sie eine der schnellsten Frauen der Welt sein kann, als sie an den Paralympics in Tokio überlegen zu Gold und dem grössten Erfolg ihrer Karriere fährt. Natürlich über 400 m, die Distanz also, über die für sie alles anfängt. In der sie 2019 in Dubai erstmals Weltmeisterin wird, später Europameisterin und Weltrekordhalterin. «Zum 400 m habe ich eine spezielle Verbindung», sagt Debrunner.
Eine entscheidende Rolle im Aufstieg Debrunners hat Arno Mul inne. Der Niederländer war über mehrere Jahre Trainer des niederländischen Para- Leichtathletik-Teams und lernt die Schweizerin 2019 in einem Trainings-lager in Teneriffa kennen. Debrunner fühlt sich auf Anhieb wohl in diesem Umfeld und fragt Mul an, ob er ihr Coach sein könne. 2020 kommt die Zusammenarbeit zustande, und mittlerweile sind die beiden sehr oft zusammen unterwegs zum Trainieren. «Arno hat mir geholfen, mehr an mich zu glauben und grössere Träume zu ha-ben », sagt Debrunner. «Es gibt keinen besseren Trainer für mich.» Mul gründet nach seinem Abgang vom niederländischen Verband sein eigenes Team, das Spitzenathletinnen und -athleten verschiedener Nationen vereint. Red Velvet Racing Team nennen sie sich.
Erinnerungen in den Niederlanden
In diesen Trainingscamps wird geschuftet. Und es werden Pläne geschmiedet. Im letzten Jahr sagt Debrunner zu ihrem Coach, sie brauche eine Challenge. Also beginnen die beiden mit dem Marathontraining. Von Juni bis August weilt sie drei Monate in den Niederlanden und bereitet sich zusammen mit zwei niederländischen Athleten auf die 42,195 Kilometer vor. Die unzähligen Fahrten durch die malerischen Landschaften erinnern sie an ihre Kindheit. Und es bringt Erfolg. Denn sowohl in Berlin als auch in London ist im Marathon niemand schneller als sie.
Debrunner sagt, sie sei immer noch Anfängerin über diese Distanz. Andere, wie ihre Teamkollegin Manuela Schär verfügten über viel mehr Erfahrung. Und doch wird sie im Herbst an den vier Marathons in Berlin, Chicago, New York und Oita teilnehmen und um einen Podestplatz mitfahren. Als vierfache Weltmeisterin und Weltrekordhalterin über mehrere Distanzen ist sie nun meist diejenige, die es zu schlagen gilt.
Das wird auch in einem Jahr so sein, wenn sie für die Paralympics wieder in Paris sein wird. Doch daran denkt sie noch nicht. In welchen Disziplinen sie antreten wird, ist noch nicht definiert. Sie bezeichnet ihr Profidasein als Abenteuer, von dem sie jede Sekunde geniesse. Debrunner sagt: «Ich bin einfach extrem dankbar, dass ich das machen kann.»
Catherine Debrunner ist die erfolgreichste Rollstuhlsportlerin der Leichtathletik-WM in Paris. Ihr Aufstieg an die Weltspitze schien nicht immer vorgezeichnet, nun kann der Thurgauerin niemand das Wasser reichen.