Von Ort zu Ort mit kleinen, feinen Texten von Laurence Boissier
Mit dem Tod der Genfer Autorin Laurence Boissier (1965-2022) ist eine literarische Stimme verstummt, die Poesie und Ironie spielend vereint hat. Ein Beispiel sind ihre 63 Miniaturen, die es nun unter dem Titel «Inventar der Orte» auf Deutsch gibt.
Welches ist der einzige Ort, aus dem mehr Leute herauskommen, als zuvor hineingegangen sind? Das hört sich an wie eines dieser dadaistischen Scherzrätsel, doch bei Laurence Boissiser gibt es eine ebenso schlichte wie gewichtige Antwort: die Geburtsklinik. Es ist der 21. Ort, an den uns die Genfer Autorin in ihrem Buch «Inventar der Orte» führt, ein Ort sanften Grauens.
Der 54. Ort liegt in der menschlichen Biografie noch weiter zurück: die Gebärmutter. «Kaum Erinnerungen an diese Stelle», notierte Boissier dazu, «muss auf physiologische Grundkenntnisse zurückgreifen, Wikipedia». Weiter unten erzählt die Autorin, wie sie auf der Suche nach der «vergessenen Empfindung, sich an einem Ort ohne Ecken, Geraden und Kanten zu bewegen» heimlich auf Spielplätzen durch Röhren kroch.
Die Orte, an die Boissier ihre Leserinnen und Leser führt, scheinen auf den ersten Blick alltäglich. Bald jedoch nehmen sie eine magische Dimension an. Fast beiläufig passiert das, und umso stärker ist die Wirkung dieser hintergründigen und dabei vergnüglichen Lektüre.
Verworfene und neue Orte
Von der Gebärmutter aus gesehen liegt das Universum auf der Skala der 63 vorgestellten Orte am weitesten entfernt. Wie überall im Buch stehen die Titel der vorangegangenen Texte durchgestrichen vor dem Textanfang. So wirken die bereits beschriebenen Orte verworfen, nur der neue Ort scheint noch Hoffnung zu wecken: Das Hotelzimmer Der Zug Der Wald Das schwarze Loch Das Draussen Das Treppenhaus Der Pausenhof Das Museum Der Quai Der Teich Das Universum.
Letzteres stellt sich Boissier als «zerknautschtes, in sich zusammengefaltetes Dodekaeder» vor, ein Körper mit zwölf Flächen, in dem niemand verlorengehen kann wie Astronaut Clooney im Film «Gravity».
Im Text «Das Schwarze Loch» wechselt Boissier flugs aus dem Weltall in die Tiefen der menschlichen Psyche und gibt Tipps, wie man das dortige Schwarze Loch namens Depression davon abhält, alles zu verschlingen.
Mal spricht sie vertraulich ein «Du» an, mal das «Sie» einer anonymen Leserschaft, dann erzählt sie wieder aus neutraler Aussenperspektive oder in autobiografischer Ich-Form. Auch dies tut sie leichthändig, frei von Formenzwang. Fast meint man, in den rhythmischen Texten das beschwingte Klicken und Klacken ihrer Tastatur zu hören.
Sprung über die Sprachgrenze
Gerne würde man mit Laurence Boissier noch viele weitere Orte besichtigen. Letztes Jahr ist sie jedoch nach kurzer Krankheit mit 57 Jahren gestorben. Was bleibt, sind ihre Bücher. Neben dem nun auf Deutsch vorliegenden «Inventaire des lieux», für das sie 2017 mit einem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet wurde, und dem 2019 zweisprachig erschienenen Spoken Script «Safari» gäbe es noch einige zu übersetzen.
Die Autorin selber hat 2011 den Röstigraben überwunden und sich als frankophone Schriftstellerin der deutschsprachigen Spoken-Word-Gruppe Bern ist überall angeschlossen. Im 61. Text «Der Röstigraben» schreibt sie liebevoll spöttelnd: «Vor 250 Millionen Jahren war der Röstigraben ein Strand. Es gab keine Kartoffeln. Nur Euphorbien, eine Art sehr widerstandsfähiger kleiner Büsche. Und natürlich Algen im Wasser. Die Kartoffeln kamen später. Die Rösti noch viel später.»*
* Dieser Text von Tina Uhlmann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.