Die Goldene Generation hat Nachfolger
Schwingerkönig Christian Stucki, seit Juni nicht mehr aktiv, findet Zeit, auf die beeindruckend gute Entwicklung im Berner Schwingerverband und auf seine eigene Karriere zurückzublicken.
Der Unspunnen-Schwinget vom Sonntag ist das erste grosse Schwingfest nach der langen Ära von Christian Stucki. Der Seeländer Hüne, mittlerweile 38 Jahre alt, kann wie kaum ein anderer die Entwicklung der Berner Schwinger beurteilen, deren neue Generation in Interlaken mehr als einen Siegesanwärter stellen wird. Stucki selbst wäre an Unspunnen nach seinem Sieg von 2017 der Titelverteidiger gewesen.
Nach den Königstiteln von Adrian Käser 1989 und dessen Schwager Silvio Rüfenacht 1992 sowie dem Kilchberger Sieg von Niklaus Gasser 1996 geriet der Berner Verband BKSV in eine sportliche Baisse. Von 1995 (Chur) bis 2007 (Aarau) stellten die Berner an fünf aufeinanderfolgenden Eidgenössischen Festen keinen Schlussgang-Teilnehmer, geschweige denn einen König. Die Nordostschweizer dominierten in dieser Zeit mit überragenden Bösen wie Thomas Sutter, Jörg Abderhalden, Arnold Forrer oder Stefan Fausch alles.
Förderer säten die Saat…
Gerade in den Jahren der ausbleibenden Grosserfolge war man im BKSV besonders aktiv, um wieder etwas Schlagkräftiges aufzubauen. Stucki hebt aus den Nullerjahren zwei Förderer hervor, die auch ihn selbst voranbrachten. «’Chlöisu’ Gasser hat für uns Junge extrem viel gemacht, aber ebenso Manfred Schneider.» Der als Comedy-Fredy allgemein bekannt gewordene Schneider wurde der erste J+S-Experte im Schwingsport, obwohl er nicht vom Schwingen kam. Gasser seinerseits war Technischer Leiter des Berner Verbands.
Die Berner stellen im ESV naturgemäss den einzigen der fünf Teilverbände, dem kein Kantönligeist zu schaffen macht. Nicht nur vor den grossen Anlässen arbeitet man miteinander. So wuchsen in jener Zeit Schwinger aus den verschiedensten Gauverbänden schier zeitgleich heran: die Oberländer Matthias Glarner und Simon Anderegg, der Mittelländer Willy Graber, die Emmentaler Matthias Siegenthaler und Thomas Sempach, die Oberaargauer Matthias Sempach und Stefan Sempach, die Seeländer Florian Gnägi und Christian Stucki.
«Der Stucki» erinnert sich lebhaft: «In der starken Zeit der Nordostschweizer hatten wir tatsächlich eine Baisse. Aber solche Wellenbewegungen in den Verbänden gibt es immer wieder. In jener Zeit waren wir immer alle zusammen, wir trainierten gemeinsam in den Kaderzusammenzügen. Wir hatten untereinander eine grosse Konkurrenz und konnten uns auf diese Weise gegenseitig fordern. Wir hatten zwischen den Jahrgängen 1983 und 1988 ein extrem breites Feld an guten Schwingern. Jeder dieser Schwinger konnte Feste für sich entscheiden. An den Grossanlässen konnten wir später als Superteam auftreten. Mein Kilchberger Sieg 2008 war wohl schon ein Vorbote, aber richtig ‘angehängt’ hat es mit Kilian Wengers Königstitel 2010 in Frauenfeld.» Wenger kann mit seinem Jahrgang 1990 – gleichsam als Nachzügler – durchaus noch der Goldenen Generation zugerechnet werden.
…Spitzenschwinger ernteten die Früchte
Als es einmal richtig «angehängt» hatte, wie Stucki es ausdrückt, dominierten die Berner, mit Stucki und Matthias Sempach im Mittelpunkt, mindestens so deutlich, wie es die Nordostschweizer vorher getan hatten. Sie stellten an vier Eidgenössischen Festen in Folge vier verschiedene Schwingerkönige (Kilian Wenger, Matthias Sempach, Matthias Glarner, Christian Stucki), darüber hinaus zwei Kilchberger Sieger und einen Unspunnensieger.
Die in die Jahre gekommenen Thomas Sempach, Gnägi und Wenger sind als letzte Vertreter der Goldenen Generation noch aktiv. Umso mehr erfreut ist Christian Stucki darüber, dass die Nachfolge bereits jetzt würdig geregelt zu sein scheint. Dabei hängt längst nicht alles am neuen Seriensieger Fabian Staudenmann. Die neuen Bösen kommen wie seinerzeit aus den verschiedensten Gauverbänden. Im Seeland vermittelt Stucki sein Wissen und sein Können beispielsweise dem 21-jährigen Modellathleten Matthieu Burger, der letztes Jahr in Pratteln schon Eidgenosse wurde.
Der Populärste
Christian Stucki ist unverwechselbar und ohne Zweifel der populärste Schwinger der Geschichte. Davon zeugt nicht nur die Wahl zum Schweizer Sportler des Jahres 2019. Er hat eine reiche Auswahl, wenn er bestimmen soll, was ihm aus der Karriere am meisten bedeutet: die 44 Siege an Kranzfesten, der Grand Slam (Schwingerkönig, Siege in Kilchberg und an Unspunnen) und natürlich der Königstitel 2019 selbst. Festlegen will er sich nicht. Jeder der Leistungsausweise nimmt in der grossartigen Laufbahn seinen Platz ein.
Viele – auch Matthias Sempach – sagen, dass Christian Stucki noch mehr hätte gewinnen können, wenn er mit seinen Gegnern «nicht zu lieb» umgegangen wäre. Ein sanfter Riese war (und ist) er tatsächlich. Als Schwinger war er ehrgeizig, ohne Ehrgeiz gewinnt man nicht. Zur riesigen Beliebtheit mag aber beigetragen haben, dass er nie verbissen wirkte und es wohl auch nie war. Er kam ohne Verbissenheit aus, was ihn von starken Konkurrenten wie Joel Wicki oder Armon Orlik unterschied. «Nicht verbissen» wäre möglicherweise die besser zutreffende Charakterisierung als «zu lieb».
Um in Pratteln 2022 mit über 37 Jahren noch einmal an einem Eidgenössischen Fest anzutreten und gut abzuschneiden, trainierte Stucki mitten in Verletzungen, die ihn von den Wettkämpfen fernhielten, so hart wie kaum jemals zuvor, wie er sagt. Er legte unter anderen Grössen wie Damian Ott und Armon Orlik auf den Rücken und gewann seinen siebten eidgenössischen Kranz sehr souverän. Einzig Karl Meli hatte mehr eidgenössisches Eichenlaub (9) gewonnen – allerdings noch in einer Zeit, als teilweise nur zwei Jahre zwischen zwei Eidgenössischen lagen.
Viele mochten sich fragen, warum Stucki mit dieser schwingerischen Form nicht noch eine dreijährige eidgenössische Periode anhängte, sondern im Juni dieses Jahres mit dem Sieg am Seeländischen Fest an seinem Wohnort Lyss aufhörte. Der Schwingerkönig informiert aus erster Hand: «Ich hatte nie einen Gedanken daran weiterzufahren.» Häufiger werdende Verletzungen hatten es ihm gegen Schluss der Karriere schwerer gemacht. «Dass ich so abtreten konnte, ist wunderbar.» Es sei alles so herausgekommen, wie er es sich nur hatte wünschen können. Die Familie mit Frau Cécile und den beiden Buben wird nicht unglücklich sein, wenn der Vater mehr Zeit hat. Und Stucki selber schätzt es, den Sommer hindurch nicht jeden Sonntag in aller Herrgottsfrühe aufstehen zu müssen.