Japan 100 Jahre nach Kanto-Beben – Film ruft Massaker in Erinnerung
Der Tod überraschte die Menschen zur Mittagszeit. In der Küche kochte gerade das Essen, als sich die Erde aufbäumte und die Öfen umkippten. 145 000 Menschen kamen an jenem 1. September 1923 ums Leben, als ein Erdbeben der Stärke 7,9 die Kanto-Ebene auf Japans Hauptinsel Honshu heimsuchte und ein folgender Feuersturm die mit traditionellen Holzhäusern dicht bebaute Hauptstadt Tokio und weite Teile Yokohamas in Schutt und Asche legte. Zum 100. Jahrestag des «Grossen Kanto-Erdbebens» erinnern Japaner wie in jedem Jahr wieder an die vielen Toten. Verblasst und verdrängt ist dagegen die Erinnerung an ein Grauen, das damals auf das Beben folgte: Massaker an Koreanern - und solchen Japanern, die wegen ihres Dialekts dafür gehalten wurden.
Kurz nach dem Erdbeben hatten sich in der verängstigten Bevölkerung des Landes unberechtigte Gerüchte verbreitet, Koreaner – und Chinesen – würden Brunnen vergiften, plündern und brandschatzen. Die staatlichen Behörden spielten bei der Verbreitung dieser Gerüchte nach Auffassung von Experten eine zentrale Rolle. Das Innenministerium des Kaiserreiches, das damals eine brutale Kolonialherrschaft über die koreanische Halbinsel ausübte, rief das «kaigenrei» (Kriegsrecht) aus und wies die Polizei an, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.
Innerhalb weniger Tage kam es zu massiven Übergriffen und Lynchmorden durch Polizei, Militär und Bürgerwehren – hauptsächlich an ethnischen Koreanern, aber auch Chinesen und Japanern, die fälschlicherweise für Koreaner gehalten wurden, sowie japanischen Sozialisten und Kommunisten. Offiziell wurden damals rund 260 Menschen ermordet, doch inoffizielle Schätzungen gehen von etwa 6000 Mordopfern aus.
Japanische Politiker und rechte Kreise haben die Massaker immer wieder geleugnet oder heruntergespielt. Seit 2017 hat die Gouverneurin von Tokio, Yuriko Koike, wiederholt Skepsis geäussert, dass die Massaker stattgefunden haben. Die Organisatoren einer Zeremonie zum Gedenken an die koreanischen Opfer des Bebens, die am 1. September in Tokio geplant ist, baten die Stadtregierung kürzlich, Koike möge zum 100. Jahrestag ein Kondolenzschreiben schicken. Das hatte sie 2016, als sie gewählt wurde, gemacht. Seither nicht mehr.
«Wir sind nicht gut darin, über unsere Geschichte zu reflektieren», beklagt der renommierte japanische Dokumentarfilmer Tatsuya Mori in Anspielung auf Japans generell mangelnde Aufarbeitung seiner Kriegsvergangenheit. Das will er ändern. Sein erster Spielfilm «September 1923 (Japanisch ‘Fukudamura Jiken’, auf Deutsch: Vorfall im Dorf Fukuda)», der am 100. Jahrestag des Bebens in kleinen Kinos des Landes anläuft, handelt von einem der Massaker, das sich wenige Tage nach dem Beben im nahe Tokio gelegenen Dorf Fukuda abspielte.
Er zeigt, wie reisende Medizinverkäufer aus Kagawa auf der Insel Shikoku mit ihren kleinen Kindern von einer hysterischen Bürgerwehr angegriffen werden, weil man sie wegen ihres Dialekts für Koreaner hält. Wer japanische Worte «falsch» ausspricht, wird brutal ermordet. Die Situation ist das Ergebnis einer verhängnisvollen Kombination aus Zufall, Fremdenfeindlichkeit und Angst, die zu dem Gemetzel führt.
Von dem Vorfall in Fukuda habe er erstmals vor 22 Jahren erfahren, erzählt der japanische Regisseur. Damals arbeitete er für das Fernsehen. Schon damals wollte er darüber eine Fernsehsendung machen. «Aber die Fernsehsender waren damit nicht einverstanden», erinnert er sich. Darauf beschloss er, eines Tages stattdessen einen Film zu drehen. Aber als er das Projekt vor ein paar Jahren den grossen Filmverleihern anbot, «kam von allen ein ‘Nein’ zurück», so Mori.
Mit seinem ausführenden Produzenten Sanshiro Kobayashi, den Kenner der Szene als furchtlos gegenüber Kritik und Anfeindungen beschreiben, gelang es Mori dennoch, das Projekt zu realisieren. Er wolle mit dem Film zeigen, wozu gute Menschen in der Lage sind, wenn sie als Gruppe agieren, erzählt Mori bei einer Vorabvorführung des schockierenden Films am Club der Auslandskorrespondenten in Tokio.
«Die Mehrheit richtet sich gegen die Minderheit. So kommt es zu Massakern und Kriegen». Unter bestimmten Bedingungen wie Angst könnten Menschen anderen grausame Dinge antun. «Das Schlüsselwort hier ist die Gruppe», sagt Mori. «Die menschliche Geschichte ist eine Wiederholung dieses Fehlers». Dies gelte besonders auch für Japan.
Mit «September 1923» will er bewusst Parallelen zur heutigen Zeit ziehen. Er halte es zwar für höchst unwahrscheinlich, dass Japaner als Volk heute Gräueltaten wie im Film begehen könnten. Andererseits gebe es auch in Japan mit seiner noch immer stark gruppenorientierten Gesellschaft erneut Hassreden zum Beispiel in sozialen Medien, warnt Mori. «Ich glaube, die Situation hat sich nicht so sehr verändert».