«Es war unerträglich» – Verzweiflung nach Erdbeben in Afghanistan
Dort wo einst ganze Dörfer standen, liegt das Leben Hunderter Familien in Trümmern. Begraben unter Ruinen suchten am Sonntag Rettungskräfte in Afghanistan verzweifelt nach Überlebenden. «Es war unerträglich. Wir sahen fünf, sechs Dörfer. Sie sind dem Erdboden gleich», erzählt Mohammed Rafik Schirsai per Sprachnachricht. Der erfahrene Mediziner ist Teil eines Rettungsteams in Westafghanistan, aus der Provinzhauptstadt Herat.
Am Samstagmorgen hatten mehrere Erdbeben Bewohner der afghanischen Grenzprovinz nahe dem Iran aufgeschreckt. Innerhalb von nur wenigen Stunden zitterte die Erde neun Mal, mehr als ein Dutzend Dörfer wurden weitgehend zerstört. Am stärksten betroffen war der Bezirk Sindadschan, nordwestlich von Herat. Militär und Rettungsdienste eilten in die Katastrophengebiete, um zu helfen.
«Man kann den Unterschied zwischen einem Haus und einer Strasse nicht mehr sehen», erzählt Schirsai weiter. «Unter jedem Stück Erde könnte ein Mensch sein, der sein Leben verloren hat und den niemand mehr retten kann. Leider waren wir nicht mehr in der Lage zu helfen», beschreibt der Arzt die bedrückenden Szenen. Videos in den sozialen Medien zeigten Rettungskräfte mit Bulldozern vor Ort und Helfer, die teils nur mit ihren Händen nach Vermissten gruben.
Selbst 300 Kilometer entfernt im Nachbarland Iran wackelten am Samstag Wände und Deckenleuchten, wie Bewohner der Millionenmetropole Maschhad erzählten. Auch dort setzten die Behörden Rettungsdienste in Alarmbereitschaft und schickten Teams an die Grenze, um mögliche Schäden zu untersuchen.
Afghanistans Katastrophenschutz bezifferte die Zahl der Toten am Sonntag bereits auf mehr als 2000. Tausende weitere Bewohner der Provinz, die im Norden auch an Turkmenistan grenzt, seien bei den Beben verletzt worden. Die Sorge ist gross, dass die Opferzahl in den kommenden Tagen noch weiter steigen wird. Das UN-Nothilfebüro OCHA ging am Samstag zunächst noch von mehr als 100 Toten aus.
Die Beben wecken Erinnerungen an die verheerende Katastrophe im Sommer vergangenen Jahres, als im Osten des Landes bei einem Erdbeben der Stärke 5,9 mehr als 1000 Menschen in den Tod gerissen wurden. Immer wieder ereignen sich schwere Erdbeben in der Region, besonders am Hindukusch, wo die Indische und die Eurasische Platte aufeinandertreffen.
Seit mehr als zwei Jahren sind die Taliban wieder an der Macht, das Land ist wegen seiner repressiven Politik, die vor allem Frauen und Mädchen diskriminiert, international politisch isoliert. Auch das ist ein Grund, warum Rettungsarbeiten teils schwierig vorankommen. Nach Jahrzehnten des Konflikts sind viele Dörfer mit einfacher Bauweise schlecht gegen Erdbeben gerüstet.
«Das Erdreich und die Trümmer sind auf die Menschen gestürzt, das Atmen wurde unmöglich», erzählt Schirsai weiter mit ruhiger, bedrückter Stimme. «Die Zahl der Todesopfer ist viel höher als das, was Sie gehört haben. In einem Dorf zum Beispiel, in dem tausend Menschen lebten, heisst es jetzt, dass nur noch 20 Menschen am Leben sind. Sie verstehen das Ausmass der Katastrophe.»