Vincent Sierros langer Weg zum Nationalspieler
Mit 28 Jahren darf sich Vincent Sierro doch noch im Nationalteam versuchen. Es ist der späte Lohn für den Walliser, der in Toulouse nach einem halben Jahr bereits Captain geworden ist.
Ein schlechtes Gewissen hat Vincent Sierro nicht. Dies, obwohl er vermutlich mit ein Grund dafür ist, dass Goalie Philipp Köhn bei Monaco seit Mitte Februar nur noch auf der Ersatzbank sitzt. Vor gut einem Monat hatte der Mittelfeldregisseur seinen Landsmann überlistet und ihn alt aussehen lassen. Statt – wie von den meisten erwartet – in die Mitte zu flanken, entschied sich Sierro für die direkte Variante und erzielte so sein drittes von inzwischen fünf Toren in diesem Jahr.
Damit brachte er seinen Trainer ins Schwärmen. Nicht, weil der Treffer so schön gewesen wäre, sondern wegen der Vorgeschichte dazu. Vor der Partie hatte der Goalietrainer nämlich auf das teilweise riskante Positionsspiel von Köhn hingewiesen. «Manchmal gibt man den Spielern Informationen, aber sie sind nicht konzentriert. Vincent ist einer derjenigen, die umsetzen, was erklärt wird», sagte Trainer Carles Novell. «Er hört immer zu und ist ein gutes Beispiel für alle.»
Diese Qualität hoben auch schon andere Trainer hervor. Peter Zeidler zum Beispiel, der Sierro sowohl bei Sion und später auch bei St. Gallen coachte, sagte einmal, Sierro sei ein Fussballer und Mensch, wie ihn sich jeder Trainer und jeder Verein wünsche. Warum also dauerte es so lange, bis ihm auch der Schritt in die Nationalmannschaft gelang?
Erstes Auslandengagement missglückte
«Ja, mein erstes Aufgebot kam später als bei anderen Spielern», sagte der im Oktober 28 Jahre alt gewordene Sierro. «Aber ich bin meinen Weg gegangen, und das hat mich zu demjenigen Spieler gemacht, der ich heute bin.» Es war ein nicht linearer Weg, einer mit Höhen und Tiefen, wie es ihn im Profifussball häufig gibt.
Nachdem Sierro bei Sion den Sprung in die erste Mannschaft geschafft hatte, erlag er schon bald dem Ruf aus dem Ausland. Mit 21 Jahren wechselte er zu Freiburg in die Bundesliga, wo er sich aber rasch auf dem Abstellgleis wiederfand. Er verletzte sich früh und fand danach nie mehr richtig ins Team zurück.
Die Verletzungen: Auch sie sind verantwortlich dafür, dass Sierro so lange auf seine erste Berufung ins Nationalteam warten musste. Als er nach einer einjährigen, für ihn äusserst erfolgreichen Leihe von Freiburg an St. Gallen bei den Young Boys in Bern landete, verpasste er in den ersten beiden Saisons jeweils gut die Hälfte aller Spiele aufgrund diverser Blessuren. So dauerte es bis Januar des vergangenen Jahres, ehe Sierro zum zweiten Mal den Sprung ins Ausland wagte.
Sierro löst erneut Sow ab
Ein weiterer Grund dafür, weshalb Sierro lange bloss auf der Pikettliste der Nationalmannschaft auftauchte, ist die starke Konkurrenz auf seiner Position. Mit Granit Xhaka, Remo Freuler und Denis Zakaria ist das zentrale Mittelfeld mit renommierten Akteuren besetzt. Dahinter lauerten lange Michel Aebischer und Djibril Sow auf ihre Chancen. Letzterer, Sierros Vorgänger bei YB, ist bei Nationaltrainer Murat Yakin derzeit nicht mehr gefragt. Es ist die Chance für Sierro.
«Vincent hat es geschafft, sich in einer Topliga als Captain zu etablieren und auch international auf sich aufmerksam zu machen», sagte Yakin bei der Präsentation des Aufgebots. Ein Ausrufezeichen gelang dem letztjährigen Sieger des französischen Cups in der Europa League mit dem 3:2-Heimerfolg gegen Liverpool, bei dem Sierro als zweikampfstarker Passverteiler glänzte.
Seine grösste Entwicklung seit dem Wechsel zu den Südfranzosen sieht Sierro im körperlichen Bereich. «Die Ligue 1 ist eine sehr physische Liga», sagte er. «Du musst hart an dir arbeiten, um bestehen zu können.» Weil er das macht, vielseitig einsetzbar und als Sprachtalent (Französisch, Deutsch, Englisch, Spanisch) auch ein prädestinierter Anführer ist, geniesst Sierro in Toulouse viel Vertrauen. Aus der schwierigen Phase im vergangenen Herbst, als er kurzzeitig seinen Stammplatz verlor, ist er gestärkt hervorgegangen – wie so oft in seiner Karriere.
Grosse Lernbereitschaft
Nach der harten Arbeit erntet Sierro nun den Lohn. Die Freude über das erste Aufgebot ist riesig, der Stolz ebenso. Das sei allerdings nicht der Grund gewesen, weshalb er bereits am Sonntag, ein Tag vor dem offiziellen Zusammenzug, nach La Manga gereist sei. «Wir spielten bereits am Freitag und von den Flügen her passte es so am besten», erklärte Sierro, der am Dienstag wie der Servettien Dereck Kutesa sein erstes Nationalmannschaftstraining auf dem Platz absolvierte.
Mit der Rolle als Neuling hat Sierro keine Probleme. «Ich habe grossen Respekt vor dieser Mannschaft, die in den letzten Jahren schöne Erfolge feiern konnte. Auch in meinem Alter kann ich viel von den Spielern hier lernen.» Es ist jene Lernbereitschaft, die Sierro auch neben dem Platz bewiesen hat, als er 2019, obwohl er längst als Fussballprofi unterwegs war, sein Fernstudium in Wirtschaftswissenschaften mit dem Bachelor abschloss. Und es ist jene Disziplin und jener Fleiss, die seine Trainer an ihm so schätzen. Nun wird Sierro versuchen, auch Yakin nachhaltig von sich zu überzeugen.