Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage
Angesichts der bedrohlichen Lage für die Ukraine kommt Bewegung in die seit Monaten festgefahrene westliche Planung neuer Waffenlieferungen. In den USA wird das Repräsentantenhaus voraussichtlich am Samstag über ein dringend benötigtes Hilfspaket abstimmen, wie der Vorsitzende der Parlamentskammer, Mike Johnson, am Mittwoch ankündigte. Der Kontrollausschuss des Repräsentantenhauses veröffentlichte die Gesetzestexte, über die nun abgestimmt werden soll. Für die Ukraine sind darin rund 61 Milliarden US-Dollar an Unterstützung vorgesehen. Zudem hiess es, US-Präsident Joe Biden solle der Ukraine «so bald wie machbar» weittragende Raketensysteme vom Typ ATACMS zur Verfügung stellen. Kiew hofft seit langem darauf.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bat die Staaten der Europäischen Union indes um mehr Flugabwehrsysteme gegen russische Luftangriffe. Am Mittwoch kamen bei einer russischen Raketenattacke auf die nordukrainische Stadt Tschernihiw 17 Menschen ums Leben, etwa 60 Menschen wurden verletzt. Selenskyj verwies vor den EU-Staats- und Regierungschefs auf die erfolgreiche Abwehr des iranischen Raketen- und Drohnenangriffs auf Israel. «Unser ukrainischer Himmel und der Himmel über unseren Nachbarn verdient die gleiche Sicherheit», sagte er in einer Videoschalte zum Gipfel in Brüssel.
Die Nacht auf Donnerstag begann für die Ukraine mit Luftalarm im Osten des Landes. Die ukrainische Luftwaffe berichtete von anfliegenden russischen Kampfdrohnen. Die Grossstadt Charkiw nahe der Grenze zu Russland werde beschossen. «Alle in die Schutzräume!», schrieb das Militär auf Telegram. Auf russischer Seite herrschte Raketenalarm im grenznahen Gebiet Belgorod. Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte mit, 14 ukrainische Artillerieraketen seien abgewehrt worden.
Lange erwartetes Hilfspaket aus Washington
Die Ukraine verteidigt sich seit mehr als zwei Jahren gegen einen russischen Angriffskrieg; am Donnerstag wird der 785. Tag der Invasion gezählt. Nach dem weitgehenden Scheitern ihrer Sommeroffensive 2023 ist die ukrainische Armee in den vergangenen Monaten in die Defensive geraten. Ihr fehlen Artilleriemunition, eigene Flugzeuge und Mittel zur Abwehr russischer Kampfjets, die Bomben abwerfen. An der Front rücken zahlenmässig überlegene russische Truppen in kleinen Schritten vor. Im ukrainischen Hinterland haben schwere Raketen- und Drohnenangriffe wichtige Teile der Stromproduktion zerstört.
Die USA fielen als wichtigster militärischer Unterstützer seit Jahresbeginn weitgehend aus. Zwar stimmte der Senat im Februar für ein von Biden beantragtes milliardenschweres Hilfspaket. Die Zustimmung der zweiten Kammer, des Repräsentantenhauses, wo die Republikaner eine knappe Mehrheit haben, fehlte aber. Wegen parteiinterner Machtkämpfe in der Fraktion kam es bislang nicht zur Abstimmung. Johnson entschied sich nun, die Hilfen doch zur Abstimmung zu bringen – allerdings separat über die Unterstützung für die Ukraine, Israel und den Indopazifik abstimmen zu lassen. Einen Teil der Hilfen für die Ukraine sind als Darlehen vorgesehen. Damit will er Republikanern entgegenkommen, die die Hilfen kritisch sehen oder ablehnen.
Es ist davon auszugehen, dass Johnson sich sein Vorhaben hat von Ex-Präsident Donald Trump absegnen lassen. Am Freitag hatten sich die beiden in Trumps Anwesen Mar-a-Lago in Florida getroffen. Trump hat immer wieder gegen die Ukraine-Hilfen Stimmung gemacht, sich zuletzt aber offen für Hilfe als Darlehen gezeigt. Für Johnson ist die Abstimmung aber heikel, weil Republikaner von Rechtsaussen ihm mit einem Misstrauensvotum drohen.
Selenskyj sorgt sich um Sicherheit der Atomkraftwerke
Der ukrainische Präsident begründete seine Bitte um mehr Flugabwehr auch mit den Zerstörungen am ukrainischen Energiesystem. Sein Land habe durch Luftangriffe seit Mitte März fast alle Wärmekraftwerke verloren, sagte er. Russland ziele auf Wasserkraftwerke und die Gasversorgung. Mit dem besetzten Atomkraftwerk Saporischschja betreibe Moskau nukleare Erpressung. Selenskyj schloss nicht aus, dass die Infrastruktur anderer ukrainischer Kernkraftwerke auch zum Ziel werden könnte. «Das kann nur mit Flugabwehr gestoppt werden, durch bestimmte Systeme wie Patriot, Iris-T, Samp-T, Nasams», sagte er.
Die EU sagte zu, angesichts der massiven russischen Raketen- und Drohnenangriffe weitere militärische Unterstützung mobilisieren. Es sei dringend notwendig, der Ukraine Luftverteidigungssysteme zur Verfügung zu stellen und die Lieferung aller erforderlichen militärischen Unterstützung, einschliesslich Artilleriemunition und Raketen, zu beschleunigen, hiess es in einer Erklärung des EU-Gipfels vom späten Mittwochabend. EU-Ratspräsident Charles Michel machte deutlich, bald Entscheidungen für mehr Luftverteidigungssysteme für die Ukraine zu erwarten. «Das ist keine Frage von Monaten. Es ist eine Frage von Tagen und Wochen», sagte der Belgier beim EU-Gipfel in Brüssel. Er könne versichern, dass alle Beteiligten alles täten, was möglich sei, um den Prozess zu beschleunigen.
Nato-Ukraine-Rat tagt
Auf Bitten der Ukraine hin berief Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg für Freitag eine Sitzung des Nato-Ukraine-Rats ein. Es werde um den dringenden Bedarf der Ukraine an mehr Luftverteidigungssystemen und Artilleriegeschossen gehen, sagte Stoltenberg in Brüssel. An der Tagung sollten Selenskyj und die Verteidigungsminister der Mitgliedsstaaten teilnehmen. Ob sie per Videokonferenz oder auch als ein physisches Treffen organisiert wird, war zunächst nicht bekannt.
In Berlin forderten Aussenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) die Verbündeten zur raschen Unterstützung der Ukraine mit Flugabwehr auf. Die Beiträge zur Abwehr der russischen Aggression «müssen schnell kommen», heisst es in gemeinsamen Briefen an ihre Kollegen. Sie appellierten an die Verbündeten, eine Bestandsaufnahme aller Flugabwehrsysteme in ihren Arsenalen vorzunehmen und zu überlegen, was direkt oder im Tausch mit Partnern an die Ukraine abgegeben werden könnte.
Das wird am Donnerstag wichtig
Die Aussenminister der Gruppe sieben wirtschaftsstarker Demokratien (G7) treffen sich auf der italienischen Insel Capri. Auch dabei ist eine stärkere Unterstützung für die Ukraine Thema. Die Minister beraten zudem angesichts eines drohenden Flächenbrands im Nahen Osten über weitere Sanktionen gegen den Iran.