«Gewisse Aussagen von ihm höre ich noch immer»
Jeannine Gmelin strebt ab Sonntag auf dem Luzerner Rotsee im Doppelzweier ihre dritte Olympia-Teilnahme an. Allein schon das ist ein grosser Erfolg für sie.
Es ist Mittagspause im nationalen Ruderzentrum in Sarnen. Jeannine Gmelin befindet sich mit Nina Wettstein in den letzten Vorbereitungen für die finale Olympia-Qualifikationsregatta von Sonntag bis Dienstag auf dem Rotsee. Zwei Plätze für Paris sind im Doppelzweier der Frauen noch zu vergeben.
«Ich sehe eine sehr realistische Chance, dass wir uns qualifizieren», sagt Gmelin im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. «Wir sind uns aber bewusst, wie gross die Herausforderung ist.» So darf nicht vergessen werden, dass die 33-jährige Zürcher Oberländerin und die neun Jahre jüngere Wettstein erst seit zwei Monaten ein Boot bilden. Zudem ruderte Gmelin nach dem unerwarteten Tod ihres Trainers und Lebensgefährten Robin Dowell im Dezember 2022 fast ein Jahr lang nicht.
Im vergangenen November erklärte sie dann aber den Rücktritt vom Rücktritt. Verlor sie viel von ihrer Fitness? «Ich war dank der Basis von zwanzig Jahren Sport immer noch auf einem relativ hohen Level. Das Bootsgefühl war jedoch weg und es fehlte die absolute Spritzigkeit und Genauigkeit beim Rudern.»
Kapitel Einer abgeschlossen
Diese Saison ist für Gmelin die erste seit langem, in der sie nicht im Skiff antritt. Im Einer war sie eine der Besten ihres Faches. 2017 wurde sie Weltmeisterin, 2018 gewann sie WM-Silber. Dazu kommen vier EM-Medaillen, darunter eine goldene (2018). Wäre es daher nicht logisch gewesen, weiter im Skiff zu rudern? «Nach den Einer-Rennen in den Trials merkte ich, dass es für mich nicht in Frage kommt, im Skiff zu starten, dies ein Kapitel ist, das der Vergangenheit angehört», sagt Gmelin.
Vielmehr brannte ihr Feuer für den Doppelzweier, der nah beim Einer ist. «Im Skiff war stets klar, dass es gut herauskommt. Das ist nun nicht mehr der Fall, was extrem spannend und motivierend ist. Ich brauchte einen Wechsel, etwas Neues. Dass es geklappt hat, ist cool.» Denn letztlich entschied die Trainercrew, wer mit wem in welcher Kategorie rudert.
Ideale Basis mit Wettstein
Mit Wettstein harmonierte Gmelin zugleich. «Wir konnten von Anfang an offen und ehrlich miteinander reden und unsere Gedanken teilen», so Gmelin. «Es passte nicht nur menschlich, sondern auch von den technischen Punkten her. Wir müssen uns beide nicht gross verbiegen, haben eine sehr ähnliche Vorstellung davon, wie wir das Boot zusammen bewegen wollen. Das war eine ideale Basis.» Ende April belegten die beiden an den Europameisterschaften in Szeged den 6. Platz.
Dennoch überraschte es Gmelin, «dass in so kurzer Zeit so viele Fortschritte möglich waren». An der Olympia-Qualifikationsregatta dabei zu sein, sieht sie als Privileg. Sollte es nicht für die Teilnahme in Paris reichen, «ist das auch okay». Für Gmelin hat sich das Comeback allein schon wegen des Prozesses gelohnt, den sie seither durchlaufen durfte. Die dritte Teilnahme an Olympischen Spielen nach den jeweils 5. Rängen 2016 in Rio de Janeiro und 2021 in Tokio wären für sie das i-Tüpfelchen.
Zukunft offen
Wie es nach dieser Saison weitergeht, lässt Gmelin offen. An der Lust, weiterzumachen, würde es ihr jedenfalls nicht fehlen. «Nun ist nicht der Zeitpunkt, diese Frage zu beantworten», sagt Gmelin. Schon dass sie ihr Comeback gibt, war ein gut überlegter Entscheid. «Ich merkte rasch, dass ein solches für mich ein Thema ist», erzählt Gmelin. «Die Trauer ist jedoch sehr unberechenbar. Ich wollte dieser zunächst Platz geben.»
Ist sie auch wegen Robin Dowell zurückgekehrt, um sozusagen das letzte gemeinsame Ziel der beiden im Rudern doch noch zu verwirklichen? «Nein, ich mache es nur für mich. Aber klar, er ist stets dabei. Er gibt mir Kraft. All das, was er mir beigebracht hat, läuft in mir weiter. Gewisse Aussagen von ihm höre ich noch immer.» Dann ist die Mittagspause vorbei, steht das nächste Training an.