«Amerigo Jones», ein Zeitdokument über Kansas City in den 1920ern
Vincent O. Carters posthum erschienener Roman «Such Sweet Thunder» haben Pociao und Roberto de Hollanda ins Deutsche übersetzt. Unter dem Titel «Amerigo Jones» erscheint er zum 100. Geburtstag des Autors. Ein Gespräch mit dem Übersetzer.
Eigentlich, sagte Roberto de Hollanda, eigentlich sei ein Buch wie «Amerigo Jones» unübersetzbar. Zusammen mit seiner Frau Pociao machte er sich dennoch ans scheinbar Unmögliche. Der Roman von Vincent O. Carter (1924–1983) erscheint nun erstmals in deutscher Fassung.
Der Autor wuchs im schwarzen Ghetto von Kansas City, Missouri, als Sohn junger Eltern auf. 1944 wurde er in die US-Armee eingezogen und war in Frankreich stationiert. Er studierte in den USA, kehrte aber dann nach Europa zurück und hielt sich für längere Zeit in Paris, München und Amsterdam auf, bevor er sich Anfang der Fünfzigerjahre in Bern niederliess. In der Schweiz schrieb er, moderierte Radiosendungen, unterrichtete Englisch, malte und meditierte.
Das Manuskript von «Such Sweet Thunder» hat Carter 1963 fertiggestellt, 2003 ist der Roman posthum erstmals erschienen. Er schildert darin eine Kindheit in Kansas City während den 1920er und 1930er-Jahren, einer Ära, die von Rassentrennung und alltäglicher Ungerechtigkeit geprägt war.
Drei Fassungen eines Textes
Das Übersetzerpaar Pociao und Roberto de Hollanda hat sich neun Monate Zeit genommen für «Amerigo Jones». De Hollanda hat eine Vorübersetzung verfasst, seine Frau hat diesen Text bearbeitet und verändert, was sie verändern wollte, wie er gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA sagte. Schliesslich haben die beiden gemeinsam an einer dritten Fassung gearbeitet.
Amerigo Jones ist eine autobiografische Figur. Er liebt seine Eltern Rutherford und Viola, die selbst noch Teenager sind, als er zur Welt kommt. Und Jones ist ein grosser Träumer. Allerdings werden viele seiner Träume ein Leben lang unerfüllt bleiben, nicht nur, aber vor allem, wegen seiner Hautfarbe.
Für die Übersetzer stellte sich nebst dem Einfühlen in eine historische Szenerie die Herausforderung, dass der Text in Vernakularsprache verfasst war, einem einzigartigen Dialekt. «Wir mussten also eine passende, unprätentiöse, unauffällige Sprache erschaffen», erklärte Roberto de Hollanda. Eine Kunstsprache.
Die beiden versuchten, «etwas zu erfinden, das die Emotionalität wiedergibt». Sie haben dazu Wörter zusammengefasst, weggelassen, und manchmal mit der Grammatik gespielt. Das Ehepaar hat sich jeweils Textpassagen vorgelesen, um zu hören, was ging, was nicht.
Ein Beispiel:
“Die Neun-Uhr-Sirene heulte.
‘Mom hat gesagt, ich soll um neun wieder raufkommen.’
‘Dann gehste jetzt besser’, sagte sie und lächelte traurig. Sie
wollte ihn küssen, doch er bückte sich rasch nach dem Blatt, auf
das er den Mann an dem Baum gezeichnet hatte, und rannte zur
Tür hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.”
«Interessantes Zeitdokument»
Das Kansas City von «Amerigo Jones» war auch Zentrum des Jazz. Es gibt diverse Anspielungen an die Jazz-Grössen jener Zeit. Duke Ellington beispielsweise ist das Buch gewidmet. Oder: In der oben zitierten Passage bezieht sich Carter auf das bittere Bild, das Billy Holiday 1939 im Lied «Strange Fruit» besang – und dessen Titel zum Synonym für die Lynchjustiz an den US-amerikanischen Schwarzen geworden ist.
Vor diesem Hintergrund sagte Roberto de Hollanda: «Der Roman ist ein unglaublich interessantes Zeitdokument.» Damit bezog er sich auch auf formale Aspekte. «Wir finden darin verschiedene Stile, Impressionismus, Expressionismus, Surrealismus.» Etwa die Träume von Amerigo Jones, mit denen er «Raum und Zeit verschiebt». Das sei «ziemlich modern für jene Zeit». Oder dass Tote, zum Beispiel der Onkel, wie normale Figuren sprechen. Auch das habe sie als Übersetzer interessiert.
Darüber hinaus spielen in «Amerigo Jones» Familie und Gemeinschaft eine wichtige Rolle, oft auf mehreren Ebenen. «Manchmal ist es schwierig, da reinzukommen», sagte de Hollanda. Parallelen zu einem anderen berühmten Auswanderer jener Zeit seien ihm bewusst: «Carter erinnert manchmal schon an James Joyce!»
Das Bernbuch
Für Leserinnen und Leser eine weniger anspruchsvolle Lektüre ist Vincent O. Carters «The Bern Book », mit dem deutschen Titel «Meine weisse Stadt und ich. Das Bernbuch» (2021) . Darin beschreibt der Schriftsteller seine Anfangszeit in Bern, die sich zugleich irritierend wie faszinierend für ihn gestaltet. Im «fremden Land mit der Marshmallow-Sprache» fühlt sich Carter – als einer der wenigen Schwarzen im Bern jener Zeit – nicht nur unwohl. Er staunt viel und liefert ein aussergewöhnlich vielschichtiges Porträt der urbanen Schweiz der 1950er-Jahre.
Pociao und Roberto de Hollanda haben auch dieses Buch übersetzt. Dafür reisten sie nach Bern, sie liefen durch die Strassen und Gassen, und sie sprachen mit der heute 90-jährigen Liselotte Haas. Sie war Carters Lebensgefährtin und ist Nachlassverwalterin. Erst vor wenigen Tagen, auch anlässlich des 100. Geburtstags von Vincent O. Carter am 23. Juni, übergaben sie und die Literaturagentin Katharina Atlas den gesamten Nachlass Carters ans Schweizerische Literaturarchiv (SLA) in Bern.
Was Carter in seinem Bernbuch über die Schweiz sagt, sei ebenfalls ein hoch spannendes Zeitdokument, sagte de Hollanda. «Er hat die Atmosphäre schön wiedergegeben», fand er. «Er wurde uns immer sympathischer.»*
*Dieser Text von Nina Kobelt, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert