Die italienische Sportpresse ist vor dem Achtelfinal kritisch
Die Leistungen des italienischen Nationalteams werden im eigenen Land kritisch betrachtet. Sportjournalist Roberto Maida liefert im Interview mit Keystone-SDA die Gründe dafür.
Maida war an der EM schon fleissig: Seit Beginn des Turniers berichtete der 48-Jährige jeden Tag von einem Spiel. Das macht 13 Spiele in 13 Tagen. Darunter waren auch die Partien Italien gegen Kroatien und Schweiz gegen Deutschland (jeweils 1:1). Maida schreibt seit 2005 für den «Corriere dello Sport», eine täglich erscheinende Sportzeitung in Italien. Im Vorfeld des Achtelfinalduells zwischen Italien und der Schweiz besuchte er die Schweizer Pressekonferenzen am Mittwoch (Remo Freuler) und Donnerstag (Michel Aebischer), um sich ein näheres Bild zu verschaffen.
Roberto Maida, Sie waren beim Spiel zwischen Italien und Kroatien im Stadion und sahen, wie Italien in der 98. Minute den Ausgleich erzielte …
«… da muss ich gleich festhalten: Ohne den späten Ausgleich zum 1:1 gegen Kroatien wäre Italien als einer der beiden schlechtesten Gruppendritten ausgeschieden. Deshalb hat das Tor von Mattia Zaccagni im Nachhinein etwas Magisches. Damit will ich nicht sagen, dass das Unentschieden unverdient war. Italien hat es sich hart erkämpft.»
Nicht nur dieser Umstand zeigt: Italien hatte in der Gruppenphase mehr Mühe als erwartet.
«Die Spieler haben das herausgeholt, was möglich war. Die heutige Nationalmannschaft ist nicht mehr so talentiert wie ihre Vorgänger. Italien trägt zwar immer noch das azurblaue Trikot, aber es ist nicht mehr die Mannschaft, die es einmal war.»
Vor drei Jahren wurde Italien noch Europameister. Was ist seither passiert?
«Ja, sie haben den Titel gewonnen. Aber wie? Auf dem Weg zum Titel gab es einige ‘glückliche Zufälle’. Den Achtelfinal gegen Österreich gewannen sie 2:1 nach Verlängerung, wobei ein Tor von Arnautovic wegen eines sehr knappen Offsides nicht gegeben wurde. Den Halbfinal gegen Spanien gewannen sie im Penaltyschiessen, nachdem sie vom Gegner dominiert worden waren. Der Finalsieg gegen England war nicht unverdient, aber sie brauchten erneut das Penaltyglück. Manchmal liegt einfach etwas in der Luft, das dir beim Voranschreiten hilft, auch wenn du nicht das beste Team bist. Das zu wiederholen, ist allerdings schwierig.»
Seit September 2023 ist Luciano Spalletti Trainer von Italiens Nationalteam. Was hat sich unter ihm verändert?
«In seinen Vereinen war Spallettis Spielstil geprägt von Ballbesitz, schnellen, vertikalen Pässen und viel Bewegung der Spieler. In der Nationalmannschaft war das noch selten zu sehen. Allerdings fehlte ihm auch die Zeit, seine Ideen umzusetzen. Nach dem für alle überraschenden Rücktritt von Roberto Mancini musste Spalletti einspringen und ergebnisorientiert spielen. Nach der WM in Katar durfte kein weiteres grosses Turnier verpasst werden.»
Das Team braucht also noch mehr Zeit?
«Der Hauptfokus liegt bereits auf der WM 2026. Derzeit verfügt Italien zwar über einige talentierte Spieler, denen jedoch die Erfahrung bei grossen Spielen und Turnieren fehlt. Ein Beispiel ist der Stürmer Gianluca Scamacca von Atalanta Bergamo, der in 19 Länderspielen nur ein Tor erzielt hat. Nicht, dass er nicht gut wäre, er ist sogar sehr talentiert. Aber das italienische Trikot hat ein Gewicht, das manche Spieler lähmt. Wer in Azurblau aufläuft, ist zum Siegen verdammt. Auch wenn andere Mannschaften gerade viel stärker sind.»
Riccardo Calafiori, der letzte Saison von Basel zu Bologna gewechselt ist, hat ein starkes Turnier gezeigt, ist gegen die Schweiz aber gesperrt. Ein herber Verlust?
«Das ist sicher ein grosser Verlust, denn er ist unser Spielmacher in der Defensive und hat unter anderem den Ausgleich gegen Kroatien eingeleitet. Ich denke aber, dass Italien in der Abwehr insgesamt gut aufgestellt ist und die Lücke geschlossen werden kann.»
Wie wird das Schweizer Nationalteam in Italien eingeschätzt?
«Ich denke, dass viele italienische Journalisten die Schweizer unterschätzen. Noch. Ich kannte die Mannschaft auch nicht so gut, als ich sie gegen Deutschland spielen sah. In diesem Spiel habe ich ein Team mit Charakter gesehen, sehr gut organisiert und mit viel taktischem Verständnis. Sie hat die Reife gezeigt, die man gegen eine Nation wie Deutschland braucht. Trainer Murat Yakin hat die Mannschaft perfekt eingestellt. Die Schweiz kann in dieser K.o.-Phase weit kommen.»
Was erwarten Sie vom Spiel gegen die Schweiz?
«Spalletti wird seine Mannschaft gut auf die Schweizer einstellen und nicht die Fehler von Julian Nagelsmann wiederholen. Man darf gegen sie nicht mit zu viel Ballbesitz agieren, denn sie spielen ein starkes Pressing. Spalletti vergleicht die Spielweise der Schweizer mit der von Atalanta Bergamo: Mann gegen Mann, sehr aggressiv, sehr hoch. Deshalb glaube ich, dass Italien versuchen wird, mit schnellen Gegenangriffen zum Erfolg zu kommen. Zum Beispiel mit Mateo Retegui im Sturm, der die hohen Bälle erobert und auf die schnellen Spieler wie Federico Chiesa oder Davide Frattesi weiterleitet.»
Und wer wird gewinnen?
«Die Schweizer Spieler betonen, dass Italien Favorit ist. Ich sehe das nicht so. Ich denke, es wird ein sehr ausgeglichenes Spiel und es würde mich nicht wundern, wenn es im Penaltyschiessen entschieden wird.»