Lyrikerin Eva Maria Leuenberger reiht sich in die Endzeit-Literatur
Die Berner Lyrikerin Eva Maria Leuenberger schreibt von der Sehnsucht, kein Mensch mehr zu sein und sich so von kollektiver Schuld zu befreien. Ihr neuer Gedichtband «die spinne» ist Teil einer jungen Endzeit-Literatur, die nur noch in der Verwilderung Sinn sieht.
«zweige spriessen / aus deinem haar; / spinnenbeine, horn / der neuen hirsche. / die zellen zittern,/ fraktal, / und neugeordnet. / von den fingern tropft harz, / tannensüss, die nadeln / in den poren vermengt, / verschlungen. / eine kastanie blüht / in der fläche ( der hand.»So vielleicht, wie Eva Maria Leuenberger das schildert, könnte es sein, wenn man als Mensch Metamorphosen hin zum Pflanzlichen oder Tierischen durchläuft und als Nicht-Mensch wieder Teil der Natur wird.
Literarische Utopien oder Dystopien wie diese haben aktuell Hochkonjunktur, vom Lyrikband «In der Nahaufnahme verwildern wir» des Wallisers Rolf Hermann (2021) bis zum Hippie-Roman «Verwildern» der Genferin Douna Loup aus dem letzten Jahr.
In Deutschland wird neu ein «Preis für Nature Writing» verliehen, und weltweit erscheinen vermehrt warnende Texte von Vertretern indigener Naturvölker.
Im westlichen Kulturkreis ist die Entfremdung von der Natur mit der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies symbolisiert. Dort verführte Eva Adam mit einem Apfel, den zu pflücken Gott verboten hatte. Seither ist das Menschengeschlecht schuldig und trägt schwer an der «Erbsünde».
Religiöse Symbolik
Auch das Tier im Titel von Leuenbergers drittem Gedichtband «die spinne» ist ein christliches Symbol: Es steht für den Teufel und mit seinem fragilen Netz für die Vergänglichkeit alles Irdischen. In fünf verbundenen Langgedichten hockt die Spinne in diesem Netz und wartet, beobachtet das «Du», zu dem die Erzählerin spricht. Sie warnt es einerseits vor den Blicken der Spinne, die wie Giftnadeln in den Körper dringen. Andererseits ortet sie das Verlangen nach der teuflischen Jägerin: «du schaust sie an / wünschst dir ihre Arme um deinen Hals».
Wie in Jeremias Gotthelfs Novelle «Die schwarze Spinne» geht es auch in Eva Maria Leuenbergers neuen Texten um menschliche Schuld. Doch anders als einst der Pfarrer von Lützelflüh thematisiert die 33-jährige Berner Dichterin heute nicht die moralischen Verfehlungen Einzelner, sondern die globale Zerstörung der Umwelt: «die bäche liegen brach; / die frösche, deren sprache / unter den steinen klemmt, / gerben in der hitze.»
Leuenbergers Bilder sind stark und physisch, das war auch in ihren mehrfach ausgezeichneten Gedichtbänden «dekarnation» (2019) und «kyung» (2021) so. «Ich untersuche, wie der Körper zur Aussenwelt steht», kommentiert die Autorin ihr Tun, «zu einem Begriff von Zeit und Vergänglichkeit.» Sie schreibe, «um die Welt und die Zeit zu verstehen, zur Essenz der Existenz vorzudringen.»
Anlehnung an Gotthelf
Bei Jeremias Gotthelf war die Essenz der Glaube, der den Menschen nach dem Tod ewiges Leben in Gott schenkte. Bei Leuenberger ist die Essenz das zyklische Werden und Vergehen alles Lebendigen, ohne Unterschied: «neue spinnen kriechen / klettern aus deiner haut».
In der «Schwarzen Spinne» platzt das Wundmal des Teufelskusses auf der Wange der Bäuerin Christine, unzählige Spinnen krabbeln hervor und bringen Elend über die Menschen. Später verwandelt Christine sich selbst in eine Giftspinne, wird eingefangen und in einem Holzbalken eingesperrt. Allerdings ist das Böse so nur gebannt, während es bei Leuenberger stirbt: «die spinnen bersten/ wie die sterne schon». In diesem Sinne gibt es auch bei ihr Hoffnung.
Obwohl Eva Maria Leuenberger sich thematisch im neuen Mainstream bewegt, hebt sich ihre Lyrik klar ab vom stereotypen Sound aus den Literaturinstituten, die sie besucht hat. Minimalistisch setzt sie die Worte auf Seiten mit viel Weissraum und verleiht ihnen rhythmisch repetierend und variierend Gewicht.
Mit Wendungen wie «Es ist so: (…)» oder «So ist es» formuliert sie absolut und prophezeit die Unabwendbarkeit des Schlimmsten. Umso mehr überrascht der Schluss: «du wirst das ende nicht sehen / und auch der anfang / ist bloss ein wort. / die fäden flattern. / und trotzdem. / bleib hier. / bleib.»*
*Dieser Text von Tina Uhlmann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.