Sorge vor weiterem Krieg im Nahen Osten wächst
Die Anzeichen für einen möglicherweise bevorstehenden grösseren Krieg zwischen Israel und der libanesischen Schiitenmiliz Hisbollah nehmen zu.
Israels Verteidigungsminister Joav Galant sagte nach Angaben seines Büros bei einem Treffen mit US-Vermittler Amos Hochstein, der einzige Weg, die Rückkehr geflüchteter israelischer Bürger in ihre Wohnorte im Norden zu gewährleisten, sei «ein militärischer Einsatz». Israels Sicherheitskabinett erklärte in der Nacht die Rückkehr der Bewohner zu einem der Ziele des Krieges gegen die mit der Hisbollah verbündete Hamas im Gazastreifen. Israel werde weiter «auf die Umsetzung dieses Ziels» hinarbeiten, teilte das Büro des Ministerpräsidenten mit.
Bisher lauteten Israels Kriegsziele, die militärischen Fähigkeiten und den Regierungsapparat der islamistischen Hamas zu zerstören, alle Geiseln freizubekommen und zu gewährleisten, dass der Gazastreifen für Israel künftig keine Bedrohung mehr darstellt. Die proiranische Hisbollah beschiesst Israel seit Beginn des Gaza-Krieges vor fast einem Jahr. Sie will die Waffen erst bei Erreichen einer Waffenruhe in Gaza schweigen lassen.
Israel fordert Rückzug der Hisbollah
Israel will erreichen, dass sich die Milizionäre der Hisbollah wieder in das Gebiet nördlich des Litani-Flusses 30 Kilometer von der Grenze entfernt zurückziehen. Eine UN-Resolution schrieb nach dem letzten grossen Krieg mit Israel 2006 vor, dass Hisbollah-Kämpfer sich nicht südlich dieser Linie aufhalten dürfen. Die Milizionäre sind jedoch über die Jahre allmählich in das Grenzgebiet zurückgekehrt, während UN-Friedenstruppen ohnmächtig zuschauten.
Der Druck auf Israels rechtskonservativen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, den zehntausenden israelischen Vertriebenen die Rückkehr in ihre Heimatorte zu ermöglichen, wächst zusehends. Rechtsorientierte Israelis fordern, zu ihrem Schutz die im Jahre 2000 geräumte israelische Sicherheitszone im Süden des Libanons wieder einzurichten.
US-Aussenminister reist nach Ägypten
Die US-Regierung bemüht sich vor diesem Hintergrund um eine Wiederbelebung der Gespräche über eine Waffenruhe in Gaza – auch in der Hoffnung, dass ein Abkommen Israel und der Hisbollah den Weg zu einer Deeskalation ebnen würde. US-Aussenminister Antony Blinken reist nun erneut nach Ägypten, um die stockenden Bemühungen für eine Waffenruhe im Gaza-Krieg und die Freilassung der Geiseln aus der Gewalt der Hamas voranzutreiben.
Blinken werde dazu ab heute bis Donnerstag Gespräche mit ägyptischen Regierungsvertretern führen, teilte das US-Aussenministerium mit. Die USA fungieren zusammen mit Ägypten und Katar als Vermittler zwischen Israel und der Hamas, da diese nicht direkt miteinander verhandeln. Nach Israel wird Blinken Medienberichten zufolge diesmal nicht reisen. Die USA sind der wichtigste Verbündete des jüdischen Staates.
USA bemühen sich um diplomatische Lösung
Israels Verteidigungsminister Galant sagte bei seinem Treffen mit US-Vermittler Hochstein, die Möglichkeit einer diplomatischen Lösung im Konflikt mit der Hisbollah rücke immer weiter in die Ferne, weil die Miliz ihr Schicksal mit der Hamas verbunden habe und sich weigere, den Konflikt zu beenden. Auch Israels Ministerpräsident Netanjahu sagte bei einem Treffen mit Hochstein, die Einwohner der Grenzregion könnten nicht zurück, «ohne dass es eine grundlegende Veränderung der Sicherheitssituation im Norden gibt».
Hochstein bemüht sich seit Monaten um eine Deeskalation der brandgefährlichen Lage an der Grenze zwischen Israel und dem Libanon. Nach Angaben israelischer und US-amerikanischer Medien warnte Hochstein die israelischen Spitzenpolitiker vor gefährlichen Folgen eines grösseren Krieges, der sich auch weiter auf die Region ausweiten könne.
Eine diplomatische Lösung sei «der beste Weg», um sicherzustellen, dass die Bürger auf beiden Seiten der Grenze in ihre Häuser zurückkehren können, sagte der Sprecher des US-Aussenministeriums, Matthew Miller. Man werde «weiterhin auf eine diplomatische Lösung drängen», sagte er. «Wir glauben grundsätzlich, dass dies im Interesse aller Parteien ist.»
Die Hisbollah verfügt dem Vernehmen nach über etwa 150.000 Raketen, Drohnen und Marschflugkörper. Im Vergleich zum letzten offenen Krieg mit Israel 2006 hat sie ihr Arsenal damit etwa um das Zehnfache ausgeweitet und könnte Israel laut Experten deutlich stärker treffen. Ähnlich wie die Hamas im Gazastreifen hat die Hisbollah im Libanon ein unterirdisches Tunnelsystem aufgebaut, aus dem die Milizionäre die Kämpfe führen könnten. Sie könnte täglich Tausende Raketen auf israelische Städte abfeuern und wichtige Infrastruktur ausschalten. Doch nicht nur für Israel, auch für den wirtschaftlich und politisch gebeutelten Libanon hätte solch ein Krieg schwere Folgen.
Iran: Israel will uns in regionalen Krieg verwickeln
Der iranische Präsident Massud Peseschkian wirft Israel vor, sein Land in einen regionalen Krieg ziehen zu wollen. Als Grund nannte er die Tötung des Auslandschefs der Hamas, Ismail Hanija, in der iranischen Hauptstadt Teheran vor gut sechs Wochen. «Israel versucht, uns durch die Ermordung Hanijas in einen regionalen Krieg zu verwickeln. Wir behalten uns das Recht auf Verteidigung (…) vor», sagte Peseschkian bei seiner ersten Pressekonferenz nach Amtsübernahme.
Er betonte erneut, dass die Islamische Republik nicht nach Atomwaffen strebe und verteidigte zugleich das Raketenprogramm seines Landes. «Wenn wir keine Raketen haben, werden sie (Israel) uns wie in Gaza jederzeit bombardieren», sagte der Regierungschef. «Wir werden unsere Verteidigungsfähigkeit nicht aufgeben.»
Seit der Islamischen Revolution von 1979 gelten die USA und Israel als Erzfeinde Teherans. Mit Israel verfeindete Gruppen wie die Hamas und die Hisbollah werden von Teheran unterstützt. Praktisch seit dem Ausbruch des Gaza-Kriegs vor fast einem Jahr droht in der Region ein Flächenbrand.
Auslöser des Gaza-Kriegs war das Massaker mit mehr als 1.200 Toten, das Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Gruppen am 7. Oktober vergangenen Jahres in Israel verübt hatten. Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde wurden seit Kriegsbeginn mehr als 41.000 Menschen in Gaza getötet. Die Zahl unterscheidet nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern und lässt sich unabhängig kaum überprüfen.