Nach Pager-Angriffen: Warten auf die Reaktion der Hisbollah
Nach einer offensichtlich koordinierten Attacke auf technische Geräte der Hisbollah mit mindestens 32 Toten und mehr als 3000 Verletzten besteht die Sorge vor einem grossen Angriff der libanesischen Miliz auf Israel.
Nach den Explosionen Hunderter Pager und Funkgeräte, hinter denen Militär- und Geheimdienstexperten Israel vermuten, könnte die Hisbollah erneut Ziele in dem verfeindeten Nachbarland angreifen.
Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah wollte am Abend eine Rede halten. Die Miliz bestätigte seit den Pager-Explosionen am Dienstag 32 Tote in den eigenen Reihen, ohne allerdings deren Todesursache zu nennen. Israel äusserte sich bisher nicht zu den Explosionen im Nachbarland.
Die Hisbollah greift seit Beginn des Gaza-Kriegs vor fast einem Jahr Ziele in Israel an, nach eigener Aussage aus Solidarität mit der islamistischen Hamas. Sie will die Angriffe erst bei einer Waffenruhe zwischen der Hamas und Israel einstellen. Der fast tägliche Beschuss hat sich zu einem niedrigschwelligen Krieg entwickelt. Im Libanon wurden etwa 600 Menschen getötet, die meisten davon Hisbollah-Mitglieder.
«Gemässigte Vergeltung» der Hisbollah gegen Israel
Bei einem möglichen grösseren Angriff der Hisbollah auf Israel würde die ranghohe Führung der Miliz eine «gemässigte Vergeltung» wählen, sagte David Wood, Libanon-Experte der Crisis Group. «Diese Haltung deckt sich mit der bewährten Herangehensweise der Hisbollah: den Druck auf Israel erhalten bis zu einer Waffenruhe in Gaza und zugleich die Risiken eines voll umfassenden Kriegs im Libanon gering halten.»
Bei der Wahl ihrer Reaktion steht die Hisbollah – mit schätzungsweise 150.000 Raketen der stärkste nichtstaatliche Akteur in der Region – erneut vor einem Dilemma. Sie will das Prinzip der Abschreckung gegenüber dem Erzfeind Israel erhalten, ist zu einem so komplexen Angriff wie mit explodierenden Pagern und Funkgeräten aber nicht fähig.
Bis sie einen ihrer Ansicht nach angemessenen Angriff auf Israel beginnt, könnten deshalb Wochen vergehen. Auf die Tötung ihres Militärkommandeurs Fuad Schukr reagierte sie militärisch erst etwa einen Monat später.
Die in den 1980er Jahren gegründete Hisbollah («Partei Gottes») verfügt ihrem Generalsekretär Nasrallah zufolge über 100.000 Mitglieder. Andere Schätzungen sprechen dagegen eher von halb so vielen Kämpfern. Sie hat grossen politischen und wirtschaftlichen Einfluss.
Die Hisbollah will einen neuen grossen Krieg mit Israel wie zuletzt 2006 aber vermeiden. Die Mehrheit der Libanesen betrachtet die politische Macht der Hisbollah in dem kleinen Mittelmeerland mit Unmut.
Israel verschiebt Kriegs-Fokus
Israels Verteidigungsminister kündigte eine «neue Phase» des Kriegs an. «Der Schwerpunkt verlagert sich nach Norden», sagte Joav Galant. «Wir stellen Kräfte, Ressourcen und Energie für den nördlichen Bereich bereit».
In der Nacht habe er auch mit seinem US-Amtskollegen Lloyd Austin über die Einsätze im Süden und Norden gesprochen, teilte Galants Büro mit. Schwerpunkt sei die Verteidigung gegen die Bedrohung der Hisbollah im Norden Israels.
Berichten zufolge verlegte die israelische Armee auch eine Einheit, die monatelang im Gazastreifen im Einsatz war, an die Grenze zum Libanon. Sie soll israelischen Medien zufolge aus rund 10.000 bis 20.000 Soldaten bestehen. Die Einheit war Ende August aus der Stadt Chan Junis abgezogen worden.
Im Gazastreifen löste die Nachricht über die Verschiebung des Kriegs-Fokus der Israelis Skepsis aus. Israels Armee setze ihre Einsätze in dem Küstengebiet noch immer fort, berichteten Anwohner der Deutschen Presse-Agentur.
Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde werden weiterhin viele Palästinenser getötet. Menschen im Gazastreifen sagen, sie hofften, dass das Militär die Kämpfe nicht nur reduziert, sondern vollständig beendet.
Israels Regierung steht im eigenen Land unter Druck
Kürzlich hatte Israels Sicherheitskabinett neben der Befreiung der Geiseln aus dem Gazastreifen und der Zerstörung der Hamas auch ein weiteres Kriegsziel festgelegt: die Rückkehr geflüchteter israelischer Bürger in das Grenzgebiet.
Seit Beginn der fast täglichen Gefechte zwischen Israel und der Hisbollah sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) rund 110.000 Menschen aus dem libanesischen Grenzgebiet geflohen. Auf israelischer Seite sind es Regierungsangaben zufolge rund 60.000.
In Israel wächst der Druck auf die Führung, die Rückkehr der Anwohner in den Norden zu ermöglichen. Viele Israelis nehmen den andauernden Beschuss aus dem Nachbarland, der auch in Israel immer wieder Opfer fordert, als untragbar wahr. Teile Israels seien nicht mehr bewohnbar, ihr Land habe sich praktisch verkleinert, erzählen Menschen in Tel Aviv.
Kein Abkommen im Gaza-Krieg in Sicht
Als Schlüssel, um auch den Konflikt in Nordisrael zu befrieden, galt lange ein Abkommen mit der Hamas über ein Ende des Gaza-Kriegs. Die Hisbollah im Libanon handelt eigenen Angaben nach aus Solidarität mit der Hamas und will ihre Angriffe auf Israel erst bei Erreichen einer Feuerpause im Gazastreifen aussetzen.
Da ein Deal mit der Hamas seit Monaten nicht zustande kommt, will Israel mit militärischem und diplomatischem Druck erreichen, dass sich die Hisbollah wieder hinter den 30 Kilometer von der Grenze entfernten Litani-Fluss zurückzieht – so wie es eine UN-Resolution vorsieht.
Ob ein grösserer Militäreinsatz im Libanon, vielleicht auch mit Bodentruppen, dem Ziel dient, darüber gibt es dem Vernehmen nach innerhalb der politischen und sicherheitspolitischen Führung in Israel Meinungsverschiedenheiten.
Unterschiedliche Ansichten gibt es in Israel auch über den mutmasslich koordinierten Angriff auf die von der Hisbollah genutzten Kommunikationsgeräte, der Israel zugeschrieben wird. Einige Beobachter loben die Explosionen der Geräte als warnende Botschaft an die Hisbollah, weil damit der Druck erhöht werde, eine Einigung unabhängig vom Gaza-Krieg mit Israel zu erzielen.
Andere sehen das kritisch. Den Anwohnern des Grenzgebiets helfe dies nicht, zitieren israelische Medien hochrangige israelischen Verteidigungsbeamte. Stattdessen drohe die Gefahr, dass sich der Konflikt ausweiten und künftig noch viel mehr Menschen betreffen könne.
Sorge vor weiteren koordinierten Angriffen
Im Libanon ging nach den Explosionswellen am Dienstag und Mittwoch die Sorge vor weiteren Attacken um. Reisende dürfen ab sofort keine Pager oder die als Walkie-Talkie bekannten Funkgeräte mehr mit an Bord eines Flugzeuges nehmen. Die Geräte würden am Flughafen beschlagnahmt, teilte die Behörde für zivile Luftfahrt mit.
Menschen in Beirut und anderen Teilen des Landes, wo es zu den Explosionen kam, berichteten der Zeitung «L’Orient Le Jour» von schrecklichen Szenen. «Ich sah Blutpfützen überall, Finger und Hand-Fetzen am Boden», sagte eine. Ein anderer berichtete von «Fingerspitzen, zerrissener Kleidung und Organen am Boden». Eine Frau im Süden sagte der Zeitung, die Attacke sei ein «Angriff auf den gesamten Libanon» gewesen.