Eskalation im Libanon: 274 Tote nach Angriffen Israels
In einer weiteren Eskalation im Konflikt mit der Hisbollah hat Israel Hunderte Ziele im Libanon aus der Luft angegriffen. Mindestens 274 Menschen seien getötet und mehr als 1.000 verletzt worden, teilte Libanons geschäftsführender Gesundheitsminister Firas Abiad mit. Unter den Opfern seien auch Kinder und Sanitäter. Es ist die höchste Zahl an Toten und Verletzten im Südlibanon seit Beginn der kriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hisbollah vor bald einem Jahr.
Nach den intensiven Bombardierungen im Süden durch Israels Luftwaffe wurden am Nachmittag auch Stellungen in der Bekaa-Ebene im Nordosten des Libanons angegriffen, wie es aus Sicherheitskreisen hiess. Die Hisbollah feuerte Dutzende Raketen auf Stellungen im Norden Israels. Dabei zielte die Miliz unter anderem auf Anlagen der Rüstungsindustrie nahe der Hafenstadt Haifa sowie auf Militärstützpunkte.
Das israelische Militär meldete allein am Montag mehr als 300 Angriffe auf «Terror-Ziele» der Hisbollah. Auf in sozialen Medien geteilten Videos war zu sehen, wie etwa in der libanesischen Küstenstadt Tyros mindestens neun massive Rauchsäulen aufstiegen.
Zuvor hatte es Berichte gegeben über Warnungen an die Zivilbevölkerung im Libanon durch sogenannte Roboteranrufe mit vorab aufgezeichneten Nachrichten oder per SMS. Man solle sich bis auf weiteres von Dörfern fernhalten, in deren Gebäuden Waffen der Hisbollah gelagert seien, habe es geheissen. Das libanesische Informationsministerium bezeichnete die Aktion als «psychologische Kriegsführung» Israels. Die Libanesen seien aufgefordert, den Nachrichten und Anrufen «nicht mehr Aufmerksamkeit zu schenken als nötig».
Israels Armee hatte die Angriffe im Nachbarland bereits in den vergangenen Tagen ausgeweitet. Auch dabei gab es Dutzende Tote und Verletzte. Die Armee weicht Fragen, ob auch eine Bodenoffensive des Militärs möglich sei, bisher aus. Bei einem Einmarsch israelischer Truppen im Libanon wäre eine noch grössere Beteiligung verbündeter Milizen der Hisbollah in der Region oder des Irans nicht ausgeschlossen.
Panik im Süden des Libanon
Die Hisbollah und Israel liefern sich seit bald einem Jahr fast täglichen Beschuss. Dabei wurden mehr als 500 Hisbollah-Kämpfer und zwei Dutzend Zivilisten im Libanon sowie 48 Soldaten und Zivilisten in Israel getötet. Zudem mussten 150.000 Menschen auf beiden Seiten der Grenze ihre Wohnorte verlassen. Die kriegsähnliche Auseinandersetzung hat sich nach der Explosion Tausender Kommunikationsgeräte im Libanon sowie einem israelischen Angriff auf die Hisbollah-Führung nahe Beirut mit mehr als 50 Toten, darunter Zivilisten, in der vergangenen Woche noch einmal verstärkt. Nach Angaben des israelischen Militärs feuerte die Hisbollah am Montag 150 Geschosse auf zivile Orte in Israel.
Anwohner waren nach den jüngsten Luftangriffen im Süden des Libanon in Panik. Viele Menschen würden unter anderem aus Vororten der Stadt Tyros im Süden fliehen, sagten Anwohner der Deutschen Presse-Agentur. Einige eilten ins Zentrum der Küstenstadt und zum dortigen Gelände der UN-Beobachtermission Unifil. Die Strassen füllten sich mit Autos von Menschen, die offenbar in Richtung Beirut oder anderer Orte im Norden des Landes fahren wollten. Auf den Strassen kam es zu Staus.
Es herrsche «Panik und Chaos», berichteten Augenzeugen. In der Küstenstadt Sidon, die etwa auf halber Strecke zwischen Tyros und Beirut liegt, kam der Verkehr zeitweise komplett zum Erliegen. Autofahrer teilten Videos in sozialen Medien, die zeigen, wie massenhaft Libanesen in Richtung Norden fahren.
Libanons Regierung wirft Israel «Vernichtungskrieg» vor
Die Regierung des Libanon warf Israel angesichts der Angriffe «einen Vernichtungskrieg in jedem Sinne des Wortes» vor. «Wir als Regierung arbeiten daran, diesen neuen Krieg Israels zu stoppen und einen Abstieg ins Unbekannte zu verhindern», sagte der geschäftsführende Ministerpräsident Nadschib Mikati.
Am Nachmittag warnte die israelische Armee auch Bewohner der Bekaa-Ebene im Nordosten des Landes. Wer sich in der Nähe eines Wohnhauses aufhalte, in denen Waffen der Hisbollah versteckt seien, solle sich binnen zwei Stunden mindestens einen Kilometer entfernen. Die Bekaa-Ebene liegt im Nordosten des Libanon und etwa zwei Autostunden von Beirut entfernt. Das Gebiet ist Gründungsort der Hisbollah.
Die Hisbollah ist heute stärker bewaffnet als im Krieg vor 20 Jahren
Israel und die Hisbollah haben bereits 1982 und 2006 Krieg gegeneinander geführt. Die vom Iran unterstützte Miliz ist heute deutlich stärker bewaffnet als während des Kriegs vor fast 20 Jahren. Sie handelt nach eigener Darstellung aus Solidarität mit der islamistischen Hamas, die im Gazastreifen gegen Israel kämpft. Hisbollah und die Hamas werden vom Iran unterstützt.
Israels Armee hat die Zahl seiner Angriffe im Gazastreifen zuletzt verringert und konzentriert sich zunehmend auf die Hisbollah. Israel will erreichen, dass sich die Miliz wieder hinter den 30 Kilometer von der Grenze entfernten Litani-Fluss zurückzieht – so wie es die UN-Resolution 1701 vorsieht, die das Kriegsende 2006 markierte. Der Resolution zufolge darf die Hisbollah entlang der Grenze nicht präsent sein. Dies wird aber weder von der UN-Beobachtermission noch von der libanesischen Armee durchgesetzt. Israel hat die Rückkehr seiner Anwohner in ihre Wohnorte im Norden zu einem der Ziele im Gaza-Krieg erklärt.
Die Hisbollah ist nach mehreren Angriffen geschwächt und hat zuletzt die schwersten Schläge seit Jahrzehnten erlitten. Insgesamt habe die Hisbollah binnen knapp eines Jahres mehr als 8.800 Raketen und Drohnen auf israelisches Gebiet gefeuert, erklärte das israelische Militär. Vor Beginn der Hisbollah-Angriffe am 8. Oktober 2023 lagen die Schätzungen des Hisbollah-Arsenals bei 150.000 Raketen, Drohnen und Marschflugkörpern.
Israels Verteidigungsminister: Bevölkerung muss Gefasstheit zeigen
Israels Verteidigungsminister Joav Galant sagte bei einer Beratung, das Land vertiefe seine Angriffe im Libanon. Dies würde weitergehen, bis Israel das Ziel erreicht haben werde, die sichere Rückkehr der Einwohner seines Nordabschnitts zu gewährleisten. «Wir haben Tage vor uns, an denen die Öffentlichkeit Gefasstheit, Disziplin und eine volle Einhaltung der Anweisungen der Heimatfront zeigen muss», sagte Galant.