Die unglaubliche Geschichte des einäugigen Katers Tokio
Zuerst scheint alles wie immer. Ein ganz normaler Tag unter der Woche. Es ist Donnerstagabend, 18 Uhr. Barbara Aebli kommt nach Hause und ruft nach ihren beiden Katzen. Während Saona sofort vor der grossen Fensterfront auftaucht, fehlt von Tokio jede Spur. Auch das anschliessende Klingeln mit dem kleinen «Glöggli» hilft nicht. Weil der Kater mit schwarzem Fell weder im Verlauf des Abends noch am nächsten Morgen auftaucht, sagt Aebli: «Da wusste ich, dass irgendetwas geschehen sein musste.» Eingesperrt? Überfahren? Weggelaufen? Solche Gedanken schiessen ihr durch den Kopf.
Barbara Aebli wohnt mit Tochter Sina und den zwei Katzen im Churer Scesaplana- Quartier. Knapp einjährig sind die beiden. Während Tokio ein neugieriger, mutiger und anhänglicher Draufgänger ist, ist Saona das ruhige, zurückgezogene und scheue Gegenteil. Auch die Entfernung des linken Auges aufgrund eines Irismelanoms (Tumor des inneren Auges) vor drei Monaten hat Tokio kein bisschen vorsichtiger gemacht. Aebli: «Auch so klettert er noch jeden Baum hinauf, geht auf fremde Menschen zu und schreckt vor nichts zurück.»
Planänderung: ab nach Altendorf
Auch am Freitagnachmittag fehlt vom einäugigen Kater jede Spur. In Absprache mit dem Tierarzt wird ihr empfohlen, eine Vermisstenmeldung bei der Schweizerischen Tiermeldezentrale aufzugeben. Als sie die ausgedruckten Plakate und Flyer in den Händen hält und sich mit einem Nachbarn über den verschwundenen Tokio unterhält, wird das Gespräch von einer jungen Frau unterbrochen. Ob sie richtig gehört habe und es um die schwarze, einäugige Katze gehe, fragt sie?
Sie sei aktuell am Umziehen – von Chur nach Altendorf in den Kanton Schwyz. Gestern habe sie einen Anruf vom Zügelmann erhalten, der ihr berichtete, beim Öffnen der Laderampe eine schwarze, einäugige Katze entdeckt zu haben. Was für ein Zufall. Für Aebli ist sofort klar, dass es sich dabei um Tokio handeln muss und dieser vor rund 24 Stunden mit dem Zügelwagen vom Churer Scesaplana-Quartier nach Altendorf mitgefahren ist. Kurzerhand ändert sie ihren Plan. Sie schreibt die Plakate und Flyer mit dem neuen Vermisstenstandort Altendorf an, holt die Tochter in der Schule ab und macht sich auf den Weg in den Kanton Schwyz. «Ich war überzeugt, dass wir am Abend mit Tokio nach Hause fah-ren würden.» Leider kommt es anders. Zu viert – Aeblis Schwester und deren Sohn sind zur Unterstützung aus Wädenswil dazugestossen – suchen sie nach dem Kater. Und tatsächlich: In einem grossen Holzschopf mit allerhand Bauschutt entdecken sie die miauende und völlig verängstigte Katze. Doch statt sie in die Arme schliessen zu können, rennt Tokio direkt vor ihren Augen davon. Wieder fehlt jede Spur von ihm. Am Tag darauf nimmt Aebli einen neuen Anlauf. Sie hängt unzählige Plakate auf, füllt die Briefkästen in der Umgebung mit Flyern und erzählt es allen Menschen, die ihr vor Ort begegnen. Doch trotz Rufen und «Glöggeln» bleibt der Kater verschwunden. Wenigstens lernen Barbara Aebli und Tochter Sina viele hilfsbereite Menschen kennen, die ihnen versichern, sich sofort zu melden, falls sie Tokio sehen würden.
Am Sonntag, es sind bereits zehn Tage seit Tokios Verschwinden vergangen, weilen die Aeblis in Wädenswil an einem Familienfest. Da erreicht sie ein Anruf. Der Kater sei aktuell in einem Wohnquartier in Lachen, man versuche, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Doch als sie 20 Minuten später in Lachen eintreffen, ereilt sie das gleiche Schicksal wie beim ersten Mal. «Sina hat noch gesehen, wie er voller Panik durch ein Feld voller Brennnesseln geflohen ist. Obwohl wir wussten, dass er lebt, war es für uns traurig und frustrierend, dass wir unseren Kater zum zweiten Mal nicht in unsere Arme schliessen konnten.» Doch die Hoffnung lebt. Auch weil in den nächsten Tagen weitere telefonische Hinweise bei den Aeblis eingehen. Man habe Tokio wiedergesehen, einmal habe er Hundefutter auf einer Terrasse gefressen, einmal sei er in einem Garten gesehen worden. «Meine Antwort auf die Hinweise war immer die gleiche: Hineinlocken und festhalten, bis wir da sind.» Der entscheidende Hinweis folgt kurz bevor der Kater seit 14 Tagen vermisst wurde. Er habe bei einem Ehepaar, das selbst Katzen hat, die vergangenen zwei Nächte im Keller übernachtet.
Einmal mehr reist Barbara Aebli nach Lachen. Neben dem «Glöggli» hat sie einen Korb und eine Decke dabei, die Tokio an zu Hause erinnern sollen. Nach einer Stunde der Suche geht alles ganz schnell. «Ich hörte hinter mir ein Miauen, drehte mich um und sah Tokio aus der Hecke kommen und auf mich zulaufen. Nach zwei Wochen hatte die Suche endlich ein Happy End.» Wie glücklich der Kater darüber ist, wieder zu Hause zu sein, zeigt sich nach der Rückkehr. Durchgehend während zwei Stunden schnurrt Tokio – auch während des Fressens. Wie müde er ist, zeigt sich ebenfalls: Er schläft fast zwei Tage lang durch.
Als Barbara Aebli die frohe Botschaft über Tokios Rückkehr in ihrem WhatsApp-Status verbreitet, erreichen sie viele rührende Nachrichten. «Es haben noch so viele Menschen mehr nach Tokio gesucht, als ich dachte. Ich bin unglaublich dankbar, dass wir so viel Unterstützung erfahren haben.»
Weil er nur noch ein Auge hat, fällt der schwarze Kater Tokio an seinem Wohnort in Chur auf. Nun sorgte er mit seinem Verschwinden für noch mehr Aufmerksamkeit – in Altendorf und in Lachen.
«Sina hat in Lachen noch gesehen, wie er voller Panik durch ein Feld voller Brennnesseln geflohen ist.»
Barbara Aebli
Besitzerin von «Tokio» aus Chur