Selenskyj wirbt in Sumy für «Siegesplan» gegen Russland
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat bei einem Besuch in Frontnähe in der Grenzregion Sumy im Nordosten des Landes bei Gesprächen mit Bewohnern und Militärs für seinen «Siegesplan» im russischen Angriffskrieg geworben. «Der Plan besteht darin, Russland dazu zu zwingen, den Krieg auf diplomatischem Weg zu beenden», sagte Selenskyj einer Mitteilung des Präsidentenamtes zufolge in Sumy. Dafür brauche das Land eine starke Position, um Moskau an den Verhandlungstisch zu zwingen.
Die Region Sumy wird aus russischer Nachbarschaft immer wieder besonders stark beschossen, weil Moskau dort den ukrainischen Truppenaufmarsch und Gegenangriffe verhindern will. Selenskyj dankte den Menschen dort, dass sie das für die Ukraine wichtige Gebiet vor einer russischen Besatzung bewahrten. «Nun müssen wir zusammenstehen, um alles zu verteidigen», sagte Selenskyj mit Blick auf die andauernden Angriffe von russischer Seite.
Details zu seinem «Siegesplan», den Selenskyj Ende September auch US-Präsident Joe Biden präsentiert hatte, gab das Präsidentenamt in Kiew zunächst einmal nicht bekannt. Klar ist aber, dass Selenskyj von den westlichen Verbündeten etwa die Freigabe von Waffen mit hoher Reichweite erwartet, um damit militärische Ziele auch im russischen Hinterland anzugreifen.
«Es gibt Entscheidungen, um die Region und andere grenznahe Gebiete zu unterstützen», sagte der Staatschef in einer Videobotschaft. Er beriet sich demnach dort auch mit der Militärspitze und dem Energieminister. Dabei sei es vor allem um Flugabwehr und den Schutz von Energieanlagen gegangen. Einzelheiten waren zunächst nicht bekannt.
Orden für Ukrainer und Lob für Kursk-Operation
Teil des Besuchs waren Ordensverleihungen an Soldaten der im benachbarten russischen Gebiet Kursk eingesetzten 82. Brigade. «Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass die Kursker Operation eine reale strategische Sache ist, welche die Partner motiviert, der Ukraine beizustehen», betonte Selenskyj. Der Druck auf Russland sei nötig, um den Krieg «gerecht» zu beenden.
Angesichts der im Raum Kursk besetzten russischen Orte und Flächen hofft Selenskyj, Moskau an den Verhandlungstisch zu zwingen. Die russische Führung hatte das zurückgewiesen und eine baldige Befreiung der Region angekündigt.
Das Gebiet Sumy wird insbesondere nach dem ukrainischen Vorstoss von Anfang August in die benachbarte russische Grenzregion Kursk täglich bombardiert und mit Drohnen angegriffen. Nach Angaben der Militärverwaltung von Sumy wurde die Region auch am Freitag im Tagesverlauf rund 50 Mal von den Russen beschossen. Es seien 84 Explosionen registriert worden. Ein Mensch wurde den Angaben zufolge verletzt. Die Ukraine wehrt sich seit zweieinhalb Jahren gegen die russische Invasion, die Kremlchef Wladimir Putin im Februar 2022 begonnen hatte.
Erneute Drohnenangriffe auf russisches Gebiet Woronesch
Russische Behörden meldeten in der Nacht erneut ukrainische Drohnenangriffe auf das Gebiet Woronesch im Südwesten Russlands nahe der Grenze zur Ukraine. Einige Drohnen hätten auf Unternehmen gezielt, die zivile Produkte herstellen, teilte Gouverneur Alexander Gussew bei Telegram mit. In einem der angegriffenen Unternehmen sei ein Mann verletzt worden, in einem Gebäude sei Feuer ausgebrochen. In einem weiteren Unternehmen, das unter Beschuss geraten war, habe es weder Schäden noch Verletzte gegeben, so Gussew. Die Angaben beider Kriegsparteien lassen sich nicht unabhängig prüfen.
Westliche Beamte: keine Aussicht auf Verhandlungen
Westliche Regierungsbeamte sehen «in naher Zukunft» keine Aussicht auf Verhandlungen in der Ukraine. «Wir sehen keine Anzeichen dafür, dass Präsident Putin von seinem Hauptziel, der Unterwerfung der Souveränität der Ukraine, abrückt», hiess es bei einem Hintergrundgespräch für Journalisten in einer westlichen Metropole. Es sei auch unwahrscheinlich, dass die Ukraine die jüngsten Erfolge Russlands in der Ostukraine rückgängig machen könne.
Moskau werde vermutlich in den kommenden Wochen versuchen, in der Umgebung der gerade eroberten strategisch wichtigen Stadt Wuhledar weiter an Boden zu gewinnen. Allerdings sei Russland nicht in der Lage, «aus diesen Erfolgen grundsätzlich Kapital zu schlagen», hiess es. «Wir werden keinen plötzlichen Durchbruch und einen schnellen Vorstoss von Russland nach Westen erleben. Es wird einfach weiterhin dieses langsame, mühsame Vorgehen sein.»
Im vergangenen Monat habe die Ukraine mit Angriffen auf Militärlager in Russland etwa 100.000 Tonnen Munition zerstört sowie den «grössten Verlust an Munition aus nordkoreanischer Lieferung» seit Kriegsbeginn verzeichnet, hiess es. Überprüfbar von unabhängiger Seite sind die Angaben nicht.
Bericht über Protest ukrainischer Soldaten
In Wosnessensk im südukrainischen Gebiet Mykolajiw haben einem Bericht des öffentlich-rechtlichen Fernsehens nach knapp 100 Soldaten eine Protestversammlung abgehalten. Die Soldaten beklagten eine unzureichende Ausbildung und fehlende Waffen. Daher verweigerten sie die Befehle und verliessen ihre Kaserne, hiess es. Die Einheit sollte demnächst in das Kampfgebiet im ostukrainischen Donbassgebiet verlegt werden.
Nach offiziell nicht bestätigten Informationen soll es sich um das 187. Bataillon der 123. Territorialverteidigungsbrigade handeln. Das 186. Bataillon dieser Brigade hatte sich nach inoffiziellen Angaben vorher bei Wuhledar von der Front abgesetzt, wodurch die Russen durchbrechen konnten und die Stadt fiel. Der Bataillonskommandeur soll sich erschossen haben und soll an diesem Samstag im Gebiet Mykolajiw beigesetzt werden. Eine offizielle Bestätigung dafür gab es nicht.
Kiew meldet viele getötete ukrainische Gefangene
In Kiew berichtete ein leitender Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft im Fernsehen von fast 100 ukrainischen Kriegsgefangenen, die von russischer Seite getötet worden seien, die meisten von ihnen in diesem Jahr. «Aktuell haben wir Informationen über den Tod von 93 unserer Kämpfer, die auf dem Schlachtfeld hingerichtet wurden», zitierte die staatliche ukrainische Nachrichtenagentur Ukrinform den Leiter der Kriegsabteilung der Generalstaatsanwaltschaft, Jurij Beloussow.
Der Staatsanwalt beklagte, dass sich der Umgang der russischen Streitkräfte mit den ukrainischen Gefangenen seit November vorigen Jahres zunehmend verschlechtert habe. Zwar hat es schon zahlreiche Gefangenenaustausche zwischen Moskau und Kiew gegeben. Immer wieder gibt es aber auch Berichte über die Tötung von Kriegsgefangenen.
Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft hatte erst am Mittwoch berichtet, das russische Militär habe 16 ukrainische Kriegsgefangene im Gebiet Donezk getötet. Generalstaatsanwalt Andrij Kostin sprach vom bisher grössten bekannten Massenmord an ukrainischen Kriegsgefangenen an der Frontlinie.