Ruth Dreifuss kritisiert das «Schweigen» des Bundesrates
Die frühere sozialdemokratische Bundesrätin Ruth Dreifuss hat in der Europafrage Kritik am Bundesrat geübt. Die Regierung zeige nicht die «Führungsrolle, die man von ihr erwartet», sagte sie in einem am Freitag veröffentlichten Interview.
«In der Zeit der Bilateralen I und II gab es eine starke Führung des Bundesrates, um sie durchzusetzen», erklärte sie gegenüber der Zeitung «Le Temps». Diesen Eindruck habe sie heute nicht mehr. Die Regierung nehme in der Europafrage ihre «pädagogische Rolle» nicht wahr. Sie bedauere diese Entwicklung «zutiefst», sagte sie weiter. Dreifuss war von 1993 bis 2002 Vorsteherin des Eidgenössischen Departements des Innern.
«Zögern bei den Prioritäten»
Protokolle der Bundesratssitzungen aus dem Jahr 1994, die am 1. Januar 2025 veröffentlicht wurden, zeigen eine zögerliche Haltung der Exekutive nach dem Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum Ende 1992, wie «Le Temps» schrieb.
Ruth Dreifuss, damals Mitglied des Bundesrates, sprach von einer «Zeit besonders starker Spannungen». Das Kollegium sei sich unsicher gewesen, welche Prioritäten in den Beziehungen zu Brüssel gesetzt werden sollten und welche Themen sofort geregelt oder für spätere Verhandlungen aufbewahrt werden müssten. Als Beispiel nannte Dreifuss die Beteiligung der Schweiz am europäischen Forschungsprogramm, die für sie eine «hohe Priorität» gehabt habe.
«Ohrenbetäubendes Schweigen»
Heute sei sie überzeugt, dass die Gründe für eine Annäherung an Europa ähnlich wie 1994 seien – vielleicht sogar noch dringlicher. Die Widerstände blieben jedoch weitgehend dieselben.
Dreifuss kritisierte das «ohrenbetäubende Schweigen des Bundesrates», als Botschafter Roberto Balzaretti im Mai 2021 versuchte, die Ergebnisse der Verhandlungen mit Brüssel der Öffentlichkeit zu erläutern. Auch die Erklärung des Verhandlungsabbruchs sei von einer auffälligen Stille begleitet gewesen. «Seitdem habe ich vom Bundesrat nicht viel mehr gehört», schloss Dreifuss.