Das Publikum der Solothurner Filmtagen schätzt Dokumentarfilme
Dokumentarfilme werden in der Schweiz gefördert und eignen sich für tiefgründige Fragen. Warum die Schweiz ein Dokumentarfilmland ist, erklärt der künstlerische Leiter der Solothurner Filmtage, Niccolò Castelli.
61 Dokumentarfilme und gerade mal 28 Spielfilme sind im Panorama-Langfilm-Programm an den diesjährigen Solothurner Filmtagen zu sehen. Ist dieser Schwerpunkt eine bewusste Entscheidung der Auswahlkommission aus den insgesamt 427 eingegebenen Filme? Es ist ein Abbild der eingereichten Filme, wie der künstlerische Leiter Niccolò Castelli der Nachrichtenagentur Keystone-SDA sagt. Bei der Auswahl wird kein bewusster Schwerpunkt gesetzt. Bei den Eingaben überwiegen in der Regel die Dokumentarfilme.
Ausgerechnet die Coronapandemie verlieh dem Spielfilm jedoch Aufschwung, so Castelli. «Während Covid konnten kaum Filme gedreht werden. Die Filmschaffenden hatten Zeit, um Drehbücher zu schreiben. Nach der Pandemie wurden diese dann verfilmt.» Dies zeigte sich letztes Jahr in Solothurn, als mehr Spielfilme im Programm waren.
Weniger Spielfilme wegen Serien
Aber wieso werden in der Schweiz im Schnitt mehr Dok- als Spielfilme gedreht? Castelli nennt mehrere mögliche Faktoren. Der naheliegendste: Dokumentarfilme kommen im Normalfall mit einem kleineren Budget und einer kleineren Crew aus. «Ein Dokfilm lässt sich mit einer halben Million herstellen.»
«In den letzten 15 Jahren hat sich auch technisch einiges verändert. Mit einer guten Digitalkamera, die nicht so teuer ist, lässt sich ein visuell starker Dokumentarfilm drehen», sagt er. Zudem sei in den letzten Jahren viel Archivmaterial digitalisiert worden und der Zugang zu historischem Material für Filmschaffende einfacher geworden.
Dokumentarfilme würden in der Schweiz auch von der Förderung ernst genommen, betont Castelli. In Italien sei es etwa kaum möglich, Förderung dafür zu erhalten. Dort würden Dokfilme fast nur fürs Fernsehen produziert.
Einen weiteren Grund für die rückgängige Spielfilmproduktion sieht Niccolò Castelli darin, dass viele Regisseurinnen und Regisseure vermehrt auch Serien drehen würden. «Der fiktionale Bereich beschränkt sich nicht mehr nur auf Langfilme, das Serienschaffen boomt.»
Erwartungen unterlaufen
Die Dichte an Dokumentarfilmen sei eher ein Pluspunkt für Solothurn, so Castelli. Denn das Festivalpublikum sei äusserst empfänglich für dieses Genre. «Vielleicht funktionieren Dokfilme in der Schweiz auch so gut, weil sie sich besonders dafür eignen, sich mit gesellschaftlichen, philosophischen und politischen Fragen auseinanderzusetzen. Diese Themen interessieren unser Publikum.»
Bei der Programmation versuche er aber trotz sicherem Wert, auch die Erwartungen zu unterlaufen. «Zum Beispiel indem ich einen Spielfilm von einer jungen Regisseurin an prominenter Stelle programmiere und damit hoffentlich auch das klassische Dokfilmpublikum erreiche», so Castelli.
Nicht nur an den Filmtagen, auch im Kino finden Schweizer Dokumentarfilme ihr Publikum. So konnte etwa «Wisdom of Happiness» über den Dalai Lama schweizweit bis jetzt über 50’000 Eintritte verzeichnen. «E.1027 – Eileen Gray and the House by the Sea» sahen am Startwochenende um die 10’000 Zuschauerinnen und Zuschauer. «Diese Erfolge sind erstaunlich, da Dokumentarfilme schwieriger zu vermarkten sind.»
Auch bei den Auszeichnungen räumen in Solothurn häufig die Dokumentarfilme ab. So gewann im letzten Jahr «Die Anhörung» den «Prix de Soleure» und «Echte Schweizer» den «Prix du Public». In diesem Jahr buhlen vier Dokumentarfilme um den Hauptpreis und fünf sind für den Publikumspreis nominiert. Und auch an internationalen Festivals laufen Schweizer Dokumentarfilme immer wieder erfolgreich. So etwa «Immortals» von Maja Tschumi am renommierten dänischen Dokfilmfestival CPH:DOX, oder «Naima» von Anna Thommen am DOK Leipzig.
«Wir durchleben einen Epochenwechsel»
Nachdem er drei Jahre lang für die Solothurner Filmtage Filme visioniert hat: Was ist Castellis Bilanz? Es sei erstaunlich, dass sich meist ein Thema herauskristallisiere, das sich wie ein roter Faden durch die Filme ziehe, sagt er. «Wir durchleben derzeit einen Epochenwechsel. Viele Filmschaffende nehmen die Vergangenheit nicht mehr einfach so hin. Sie setzen sich mit den Themen Hinterlassenschaft und Erbe auseinander.» So etwa Simon Baumann in «Wir Erben», aber auch Zijad Ibrahimovic in «Il ragazzo della Drina», in dem der Regisseur 30 Jahre nach dem Massaker von Srebrenica in seine Heimat zurückkehrt und sich seinem Fluchttrauma stellt.
Und was macht für Niccolò Castelli, der selbst auch Regisseur ist, überhaupt einen guten Dokumentarfilm aus? «Der Film muss mich nicht nur inhaltlich, sondern auch visuell begeistern, er muss ein filmisches Bewusstsein haben. Ich will neue Perspektiven einer Geschichte sehen, Schatten, Ecken und Kanten. Ich mag es, wenn das Publikum mit interessanten Fragen im Kopf das Kino verlässt.»*
*Dieser Text von Sarah Sartorius, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.