Sie sind Yakins Neue
Michael Lehmann (sda)
Ein grosses Haus am Bodensee: Daran erinnert sich Stefan Gartenmann, wenn er an seine Zeit in der Schweiz denkt. Immer in den Herbstferien traf sich die Familie, nach Gartenmanns Erinnerung gut 20 Personen, um gemeinsam die Zeit zu geniessen. Für seinen Grossvater waren die Ferien eine Heimkehr, nachdem er Amlikon-Bissegg im Thurgau verlassen hatte, um in Dänemark als Käser zu arbeiten. Für den jungen Stefan war es ein Ort, der in seinem Herzen blieb.
Dass er gut 20 Jahre später das Schweizer Kreuz auf dem Trikot tragen würde, hätte er allerdings nie gedacht. Gartenmann absolvierte seine gesamte fussballerische Ausbildung in Dänemark, bestritt gut 30 Spiele in den verschiedenen U-Mannschaften, doch dann war plötzlich Schluss. Auf eine Berufung ins A-Team wartete Gartenmann vergeblich. Vielleicht, weil er «kein Schönfussballer» sei, vermutet der 28-Jährige. Sein Agent habe ihn bei Verhandlungen immer mit Jaap Stam verglichen. Das hat Gartenmann verinnerlicht: «Ich bin ein Old-School-Verteidiger. Nicht besonders schnell, nicht besonders stark, aber sehr effektiv.»
Reise nach Budapest
Der Vergleich mit Stam, Jahrgang 1972, scheint bei Murat Yakin, Jahrgang 1974, ins Schwarze getroffen zu haben. Als er letztes Jahr von Gartenmanns Agent kontaktiert und auf dessen Schweizer Wurzeln aufmerksam gemacht wurde, reiste der Schweizer Nationaltrainer kurz darauf nach Budapest, um Gartenmann bei seinem Klub Ferencvaros zu besuchen.
Jetzt sitzt der Innenverteidiger in einem Pavillon in Almancil und spricht mit der Schweizer Medienschar. Er tut dies in sehr gutem Deutsch. Bei seinen Grosseltern hat er die Sprache beim Schauen von Cartoons erstmals aufgeschnappt, in der Schule hat er sie gelernt und jetzt will er sie noch vertiefen. «Die Schweiz ist meine zweite Heimat. Dass ich hier die Chance bekomme, mich im Nationalteam zu zeigen, bedeutet mir und meiner Familie sehr viel.»
Lange Reise für Blondel
Raclette und Neuchâtel Xamax: Daran erinnert sich Lucas Blondel, wenn er an seine Zeit in der Schweiz denkt. Im Gegensatz zu Gartenmann hat er nicht nur Ferien in der Schweiz verbracht, sondern sogar seine ersten Lebensjahre. Doch die Erinnerungen an diese Zeit sind vage. Sein Vater ist in Neuenburg geboren und ein grosser Xamax-Fan. So kam auch der junge Lucas früh mit den Rot-Schwarzen in Berührung. Und das Raclette begleitete ihn sogar bis nach Argentinien, als die Familie beschloss, sich im Land der Mutter niederzulassen. Früher hätten sie einen Raclette-Ofen gehabt, aber leider habe er schon lange keines mehr gegessen.
Wie sein Vater Jean-Yves, der es immerhin auf Platz 546 der ATP-Weltrangliste schaffte, spielte auch Lucas Blondel in seiner Jugend Tennis. Bis er 13 oder 14 Jahre alt war, erinnert sich Blondel, dann hatte er genug. «Ich ärgerte mich viel zu oft über mich selbst, verlor immer wieder die Nerven. Da ha-be ich gemerkt, dass ich lieber Mannschaftssport betreibe.» Von Atlético de Rafaela über Tigre kam er 2023 zu den Boca Juniors, einem der bekanntesten Klubs der Welt. Dort spielt er in der Bombanera vor gut 50 000 Fans. Als er gebeten wird, von der Atmosphäre zu erzählen, schüttelt Blondel nur den Kopf. Das sei unmöglich. «Man muss es erleben, um es zu verstehen.»
Schon länger im Fokus
Der Kontakt zu Murat Yakin be-stand schon länger. Schon vor der EM in Deutschland war davon die Rede, dass Blondel zumindest zum erweiterten Kader gehören könnte. Doch dann zog er sich einen Kreuzbandriss zu und fiel lange aus. Nun bekommt auch er die Chance, sich im Nationalteam zu zeigen. Die gut 24-stündige Anreise nimmt er dafür gerne in Kauf und würde es auch in Zukunft wieder tun. «Davon habe ich immer geträumt», erzählt der wie Gartenmann 28 Jahre alte Rechtsverteidiger in sehr gutem Französisch. «Ich hoffe, dass ich mit meinem offensiven Spiel auf der Aussenbahn überzeugen kann.» Der abgeklärte Däne auf der einen, der heissblütige Argentinier auf der anderen Seite. Beide verbinden ihre Schweizer Wurzeln. Für Assistenztrainer Davide Callà ist klar, dass beide eine Bereicherung für die Nationalmannschaft sein können. «Ich habe zwei Jungs kennengelernt, die grosse Lust ha-ben, Fussball zu spielen. Die auch sehr stolz sind, hier sein zu dürfen. » Als Kind italienischer Eltern in der Schweiz aufgewachsen, wisse er genau, wie es sei, mehrere Herzen in der Brust zu haben. «Ihre Geschichte spiegelt auch ein bisschen die heutige, vernetzte Welt wider. Man kann überall zu Hause und an mehreren Orten verwurzelt sein.» Sowohl Gartenmann als auch Blondel sagen, sie seien zwar etwas überwältig von den Erlebnissen, aber sehr gut aufgenommen worden. Die Chance, ihre zweite Heimat vertreten zu dürfen, wollen sie unbedingt nutzen.
Sie sind die beiden Unbekannten im Schweizer Fussball-Nationalteam: Lucas Blondel und Stefan Gartenmann sprechen über ihre «zweite Heimat» und was sie mit ihr verbinden.