«Ich leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung»
Livio Jud
In unter 100 Tagen hat Oliver Heer als erster Deutschschweizer überhaupt die Vendée Globe, die härteste Segelregatta der Welt, beendet. Zuletzt war der Weltumsegler zurück in Rapperswil-Jona. In seiner Heimat konnte sich der 36-Jährige aber kaum erholen, da er viele Präsentationen hält, wie zuletzt in seiner ehemaligen Schule.
Oliver Heer, was ist seit Ihrer Ankunft im Ziel passiert?
Sehr viel. Ich habe seither kaum eine Pause gemacht. In Les Sables d’Olonne hatte ich einen Termin nach dem anderen. Danach bin ich in mein Haus in der Bretagne zurückgekehrt und habe mich zwei Tage verkrochen. Nachher bin ich in die Schweiz gereist. Seither habe ich jeden Tag mehrere Anlässe. Ich hatte also noch nie wirklich Ruhe. Nun geht es aber ein paar Wochen in die Ferien.
Das heisst, Sie sind noch kaum zur Erholung gekommen?
Nein, aber ich habe auch noch nicht den Drang dazu. Genau über das habe ich mit meinem Sportpsychologen gesprochen. Er sagt, dass ich an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leide. Mein Körper war über 100 Tage einem grossen Stress ausgesetzt. Die ersten zwei, drei Wochen danach war ich extrem auf Draht. Langsam nimmt es etwas ab, aber ich kann auch an einem Sonntag noch nicht auf dem Sofa liegen. Nur weil man an Land ist, weiss der Körper nicht, dass er nun abschalten kann.
Das ist also eher das Gegenteil zum Post-Olympic-Blues, einer Art Depression, unter der viele Olympioniken nach den Spielen leiden?
Ja, das stimmt. Ich habe das Gefühl, dass es daran liegt, dass ich viel länger unterwegs war. Ich hatte 100 Tage Stress. Tag und Nacht. Mein Mentaltrainer hat gesagt, dass es ihn nicht überrasche, dass mein Körper etwas länger braucht, um wieder zu merken, dass ich abschalten kann.
Wie gehen Sie mit der Störung um?
Ich sage mir, dass ich mir keine Sorgen machen muss, wenn ich noch ein paar Wochen auf Draht bin. Ich versuche, in den Ferien abzuschalten. Wenns dann immer noch nicht geht, muss ich mit meinem Mentaltrainer reden. Im Moment ist es aber noch kein Problem.
Wie werden Sie in Rapperswil-Jona von den Menschen wahrgenommen?
Als ich die Kampagne vor drei Jahren angefangen habe, hat mich und die Vendée Globe niemand gekannt. Mich freut es natürlich extrem, dass so viele Leute die Vendée Globe und mich verfolgt haben. Am Tag, als ich in die Schweiz zurückkam, besuchte ich ein Eishockeyspiel der SCRJ Lakers. Dort haben mich viele Leute angesprochen und nach einem Selfie gefragt. Das ist komplett neu für mich. Daran muss ich mich zuerst einmal gewöhnen – im positiven Sinne, denn das war ja das Ziel unserer Kampagne.
Wie war es für Sie, nach so langer Zeit alleine, wieder unter Menschen zu sein?
Damit hatte ich eigentlich keine grosse Mühe. Im Ziel in Les Sables d’Olonne waren Tausende Menschen vor Ort. Da war ich immerhin hinter Abschrankungen. Es gab aber auch Momente, in denen ich etwas überfordert war. Zum Beispiel am erwähnten Eishockeymatch. Das Stadion war voll, und alle wollten mir die Hand schütteln. Dazu war es sehr laut. Dort war es mir für den Moment fast etwas zu viel. Aber jetzt ist wieder alles gut. Ich bin ein geselliger Mensch und mag es, wenn Leute um mich herum sind.
Wie ist es Ihnen während der Zeit auf dem Schiff mental ergangen?
Natürlich gab es schwierige Momente wie Weihnachten oder Silvester. Wenn ich weiss, dass alle zusammen sind und ich alleine auf dem Schiff bin, fühlte ich mich schon manchmal einsam. Solange dieses Gefühl aber nur von kurzer Dauer ist und man wieder aus dem Gefühl rausfindet, ist es okay. Dafür hatte ich gewisse Tools durch meine Zusammenarbeit mit meinem Mentaltrainer zur Verfügung. So habe ich mir nach einer Viertelstunde gesagt: «Nein Ollie, du bist nicht einsam. Du bist vielleicht alleine, aber nicht einsam.» Dann ging es mir jeweils wieder besser.
Wie hoch war Ihre Bildschirmzeit während der Zeit auf dem Boot?
Alle Leute haben die romantische Vorstellung vom Segeln, dass man weg vom Computer und vom Internet kommt. Das ist aber gar nicht der Fall. Ich habe circa acht bis neun Stunden am Tag vor dem Bildschirm verbracht. Ich habe insgesamt 182 Interviews gegeben. Dann noch täglich ein Update- Video produziert, ein paar Fotos gemacht und das Wetter analysiert. Das heisst, es war eigentlich so, als hätte ich einen normalen Bürojob.
Was ist nach der Zieleinfahrt mit Ihrem Schiff passiert?
Mein Schiff ist im Moment in Frankreich in tausend Einzelteile zerlegt. Es wird nun analysiert und auf Defekte überprüft. Gleichzeitig steht es zum Verkauf. Wenn ich eine neue Kampagne aufgleisen will, benötige ich auch ein anderes, schnelleres Boot. Langfristig werde ich dem Schiff «tschüss» sagen müssen, aber das ist okay.
Zu welchem Preis wird das Schiff verkauft?
Es steht jetzt für 680 000 Euro exklusiv Mehrwertsteuer zum Verkauf. Total kommt man also auf eine knappe Million.
Im Südpolarmeer sind Sie an einem Eisberg vorbeigesegelt, was Sie sichtlich unter Stress gesetzt hat. Auf den Bildern sah die Distanz zum Eisberg ziemlich gross aus. Wie gross war die Gefahr wirklich?
Ich war circa tausend Meter entfernt. Das Problem, wenn man an einem Eisberg vorbeisegelt, ist nicht der Eisberg selbst, sondern die kleinen Brocken, die abbrechen. Das Risiko, in einen grossen Eisberg zu segeln, ist sehr klein. Wenn ich aber mit einem kleinen Eisbrocken kollidiere, kann das fatale Auswirkungen haben. Diese Eisblöcke werden von meinem System nicht erkannt. Deshalb löste es auch viel Stress aus bei mir. Danach wurde es noch dunkel. Dann sieht man die kleinen Eisbrocken nicht mehr. Das Gefahrenrisiko ist dort kurzfristig schon sehr stark gestiegen.
Im schlimmsten Fall hätte das zu einem Abbruch führen können. Hatten Sie ihren Pass und Geld an Bord, falls Sie bei einer Aufgabe in einem anderen Land angelegt hätten?
Ja, ich hatte eine Kreditkarte und 1000 US-Dollar in Cash dabei. Für den Fall der Fälle. Zudem haben sich alle Skipper vor dem Start in Frankreich ausstempeln lassen, damit es keine Probleme gibt, wenn man plötzlich in Neuseeland an Land gehen muss. Man bereitet sich auf diese Szenarien vor, hofft aber natürlich, dass diese nie eintreffen.
Lohnt sich die Vendée Globe finanziell?
Gute Frage. Für mich hat sich die erste Kampagne der Vendée Globe finanziell nicht gelohnt. Es war eine typische Start-up-Kampagne wie bei einer Firmengründung. Wenn man ein Start-up gründet, zahlt man sich die ersten paar Jahre vielleicht gar keinen Lohn aus und arbeitet sieben Tage pro Woche. Im Team macht zudem jeder ein wenig alles. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich eine Vendée-Globe-Kampagne kommerziell lohnen kann. Für unsere Sponsoren hat sich diese Kampagne bereits jetzt gelohnt. Wir haben uns selbst fast keinen Lohn ausgezahlt. Wenn ich mir bei einer weiteren Austragung noch einen Lohn auszahlen und den Return für die Sponsoren immer noch sicherstellen kann, dann lohnt sich das Projekt.
Sie scheinen also schon tief in der Planung für eine zweite Teilnahme zu sein. In einer Videoübertragung mit dem Yachtclub Rapperswil haben Sie einmal erwähnt, dass Sie über eine zweite Teilnahme noch unschlüssig sind. Woher kommt dieser Sinneswandel?
Daran mag ich mich gar nicht erinnern. (lacht) Wenn man an Land ist, filtert man die schwierigen Momente eher aus, um sich auf das Positive zu konzentrieren. Natürlich gibt es immer schwierige Momente, wenn man aber das Ganze anschaut, ist es eine geniale Sache. Obwohl es harte 100 Tage sind, sind es 100 Tage, die ich nicht missen will. Darum habe ich das Gefühl, dass ich an einem Punkt angekommen bin, an dem ich es gerne nochmals machen würde. Mein Ziel ist es nun, 2028 unter die besten 15 zu kommen und 2032 in die Top 5 zu segeln.
Würde ein «normaler» Mensch nicht sagen: «Ich habe es geschafft und bin gesund zurück. Jetzt muss ich das nicht noch einmal haben»?
Das ist interessant. Ich war mir auch nicht sicher, wie ich reagieren würde, nachdem ich die Ziellinie überquert habe. Ich wusste nicht, ob ich die Erfüllung habe, dass ich sage, «jetzt habe ich es einmal gemacht und brauche es nicht noch einmal».
Das war offenbar nicht der Fall.
Nein. Ich habe das Gefühl, wenn man etwas gerne macht, worin man gut ist und das noch kommerziell machen kann, sodass es für alle Involvierten stimmt, warum nicht? An diesem Punkt habe ich das Gefühl, die Chancen stehen gut, dass es wirklich kommerziell Sinn macht. Darum sehe ich keinen Grund, warum ich es nicht nochmals machen sollte.
Wie sieht Ihr Kalender nach den Ferien aus?
Ich muss unmittelbar danach Partner finden für die nächste Kampagne. Diese Vendée Globe hat mir dafür schon einmal geholfen. Viele Leute kennen mich jetzt und wissen, dass ich es kann. Wir haben uns dafür ein halbes Jahr Zeit gegeben. Wenn wir Partner haben und das Budget feststeht, geht es darum, Leute wieder einzustellen und einen Kalender für die nächsten vier Jahre auszuarbeiten. Ich werde sicher auch ab und zu ein paar Regatten bestreiten. Es werden aber etwas weniger sein als im letzten Jahr.
Oliver Heer hat im Rahmen der Vendée Globe die Welt umsegelt. Im Interview in Rapperswil-Jona erzählt der 36-Jährige von einem Trauma, spricht über die Finanzen und erklärt, was seine Weltumsegelung mit einem Bürojob zu tun hat.
«Es war eigentlich so, als hätte ich einen normalen Bürojob.»