Wenn die Hölle des Nordens zum Pavé-Gipfel lädt
Dominik Moser (sda)
Das mit Spannung erwartete Debüt von Tadej Pogacar wertet die 122. Ausgabe von Paris–Roubaix, dem Rennen mit seinen sechs Millionen Pflastersteinen, nochmals auf. Das Wichtigste im Überblick.
Wie heissen die Favoriten?
Die fünf Monumente im Radsport wurden in jüngster Vergangenheit geprägt von zwei Fahrern. In den letzten sechs Eintagesrennen mit dieser Strahlkraft hiess der Sieger stets Mathieu van der Poel oder Tadej Pogacar. Auch diese Saison teilten sich der Niederländer und der Slowene die Siege auf. Van der Poel triumphierte bei Mailand– Sanremo im Sprint, Pogacar schlug am vergangenen Sonntag mit einem Solosieg in der Flandern-Rundfahrt zurück.
Es ist anzunehmen, dass das hochstehende Duell der beiden Superstars am Sonntag bei Paris– Roubaix seine Fortsetzung findet. Dabei tritt Van der Poel als Vorjahressieger an, Pogacar als Debütant. Der Roubaix-Neuling meint zur Ausgangslage: «Es wird ein völlig anderes Rennen sein, das mir sicherlich weniger liegt als die Flandern- Rundfahrt. Aber ich nehme die Herausforderung an. Mit der Form, in der ich mich momentan befinde, muss ich es versuchen.»
Weshalb startet Pogacar?
Um die Teilnahme Pogacars bei Paris–Roubaix wurde lange ein Geheimnis gemacht. Die Teamleitung war stets gegen den Start ihres Aushängeschilds. Sie sieht in der «Hölle des Nordens» eine grosse Sturzgefahr und damit eine Gefährdung des wichtigsten Saisonziels, dem Sieg bei der Frankreich-Rundfahrt. Trotz all dem Risiko entschied sich Pogacar für einen Start. Der 26-jährige Weltmeister räumte zwar ein, dass die Königin der Klassiker «sicherlich gefährlich » sei, relativierte aber. «Man kann seine Saison oder seine weitere Karriere bei Roubaix riskieren. Aber das scheint mir nicht gefährlicher zu sein als eine Ankunft im (Massen-)Sprint auf den ersten Etappen der Tour de France.»
Wie sind Pogacars Chancen?
Das Rennen mit seinen sechs Millionen Pflastersteinen wird für Pogacar zur ultimativen Herausforderung. Es gilt als noch härter als die Flandern-Rundfahrt, zudem ist die flache Strecke seiner schmächtigen Statur nicht gerade zuträglich. Allerdings liess Pogacar zuletzt mit starken Trainingsleistungen aufhorchen. Bei einer Besichtigung in der vergangenen Woche stellte der Ausnahmekönner bei drei von 30 zu befahrenden Kopfsteinpflaster- Sektoren schon mal Allzeit- Geschwindigkeitsrekorde auf. Dies deutet darauf hin, dass er auch bei diesem Klassiker um den Sieg mitfahren könnte.
Wäre ein Sieg von Pogacar historisch?
Allein Pogacars Teilnahme hat eine historische Note: Seit Greg Le-Mond 1991 stand nie mehr ein aktueller Tour-de-France-Sieger am Start von Paris–Roubaix. Würde der Slowene eine Woche nach seinem Kraftakt an der Flandern-Rundfahrt erneut gewinnen, würde er in die Fussstapfen der elf Fahrer treten, die das seltene Double Flandern/Roubaix im gleichen Jahr geschafft haben. Fabian Cancellara (2010 und 2013) sowie dessen langjähriger Rivale Tom Boonen schafften das Kunststück so-gar zweimal. Doch keiner von den elf Fahrern hat die Tour de France gewonnen.
Was spricht für Van der Poel?
Trotz all dem Rummel um Pogacar: Van der Poel ist am Sonntag der Topfavorit. Der Niederländer musste sich zwar in Flandern mit Rang 3 begnügen, ist aber immer noch die Referenz auf dem Kopfsteinpflaster von Roubaix, wo er 2023 und 2024 triumphierte. Er fährt auch für die Geschichte. Ein dritter Sieg in Folge würde ihn mit Octave Lapize (1909, 1910, 1911) und Francesco Moser (1978, 1979, 1980) gleichstellen, den einzigen Fahrern, die dieses Kunststück geschafft haben. Van der Poel kann sich auf seine bisherigen Erfolge und die Unterstützung von Jasper Philipsen verlassen, der bei den letzten beiden Ausgaben von Paris– Roubaix den 2. Platz belegte.
Wer vertritt die Schweiz?
Wer im Velodrom in Roubaix den Sprung aufs Podest schafft, wird mit einem Pflasterstein belohnt. Eine solch aussergewöhnliche Trophäe hat auch Stefan Küng für seinen dritten Platz 2022 schon zu Hause stehen. Der 31-jährige Thurgauer machte nie einen Hehl daraus, dass er «gerne noch den grösseren Bruder» in seinem Besitz bringen würde. In den letzten beiden Jahren beendete er das Rennen, das ihn schon von klein auf fasziniert, auf Rang 5. Im Vergleich zur Flandern-Rundfahrt, die er am vergangenen Sonntag als starker Siebenter beendet hat, kann Küng bei Paris–Roubaix auf dem viel flacheren Terrain seine Fähigkeiten als starker Roller viel eher ausspielen. Mit Silvan Dillier, einem Helfer Van der Poels, und Stefan Bissegger stehen zwei weitere Schweizer auf der provisorischen Startliste.
Welcher Pavé-Sektor ist der Gefürchtetste?
Von der nördlich von Paris gelegenen Stadt Compiègne nach Roubaix sind 259,2 km zurückzulegen. Davon führen 55,3 km über Kopfsteinpflaster. Insgesamt sind 30 Pavé- Sektoren zu bewältigen, zwei mehr als zuletzt. Der Wald von Arenberg, der Mons-en-Pévèle und der Carrefour de l’Arbre gelten als die härtesten Abschnitte. Sie beginnen etwa 95, 49 respektive 17 km vor dem Ziel. Die im Vorjahr neu eingeführte künstliche Schikane vor der Einfahrt auf den gefürchteten Wald von Arenberg, die für ein reduziertes Tempo der Fahrer sorgte, wurde wieder entfernt. Die Veranstalter haben sich mit einer neuen Anfahrt etwas Neues einfallen lassen. Der kleine Umweg mit vier 90-Grad-Kurven soll das Peloton verlangsamen.
Und die Frauen?
Einen Tag vor dem Männer-Rennen findet am Samstag zum fünften Mal die Frauen-Edition des Klassikers statt. Die 163 Kilometer lange Route ist identisch mit der aus dem Vorjahr und weist 29,2 Kilometer über Kopfsteinpflaster auf, die über 17 Sektoren verteilt sind. Als Topfavoritin gilt die belgische Vorjahressiegerin Lotte Kopecky. Aus Schweizer Sicht ist Elise Chabbey ein Topresultat zuzutrauen. Die Genferin wurde vor drei Jahren Vierte. Am vergangenen Sonntag belegte sie an der Flandern- Rundfahrt beim Sieg von Kopecky Rang 7.
Mit Paris–Roubaix erreicht die Saison der Pavé-Klassiker am Sonntag ihren Höhepunkt. Die 122. Ausgabe des Radspektakels erhält eine besondere Zutat.